#99 Wenn dein Kind stirbt (m. Arne Kopfermann)

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37 Kommentare zu „#99 Wenn dein Kind stirbt (m. Arne Kopfermann)“

    1. Ich muss noch viel über den Talk nachdenken.
      Die Idee, Platz für Trauer, Klage, Nichtverstehen beim Abendmahl zu machen, ist grandios…. wäre wirklich vielleicht an der Zeit, da etwas aus dem Abseits zu holen, was doch zu diesem Leben gehört.

      Und die Hymns to swear by sind auch wunderschön und holen mich total ab.
      Arne und Jay – es tut mir unglaublich leid und ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein muss.

      Unsere Situation ist ähnlich wie Gofi´s. Was ihr gesagt habt, hat mir geholfen, meinen Mann zu verstehen, der manchmal ziemlich hadert mit warum… ich muss ihm auch Platz dafür geben, aber es ist so agressiv manchmal, und ich fühl mich dann eher angegriffen und weiß auch nicht, was ich jetzt machen soll. Und manchmal war es eine ganz harte Belastung für unsere Ehe. Wir kriegen es zwar mittlerweile hin, aber meine Art (eher annehmen, und zwischendurch mal traurig sein, dann wieder aufrappeln) und die Art von meinem Mann (oft Wut… er würde das Beispiel von dir Jay, mit dem Grab, total nachvollziehen können).
      Was ich dann tue, ist mich nach innen zurückzuziehen. Aber es ist nicht gerade hilfreich für ihn…. aber, ich weiß einfach nicht, wie ich diese Wut aushalten soll, ich brauche in diesen Situationen meine ganze Kraft für mich und das Familienleben…. oder was würde euch, die ihr vielleicht eher einen wütenderen Umgang mit Trauer und krassen Enttäuschungen habt, helfen? Ich fühle mich unglaublich überfordert mit Wut. (Wahrscheinlich geht es vielen Gemeindepastoren genausso, und darum machen sie einen Bogen um die Thematik „Leid“).

      In diesen Situationen merkt man erst, wie zerbrechlich man selbst ist. Dass man nicht mal unbedingt einen anderen tragen kann, auch wenn man ihn wirklich liebt.

      Ich weiß, mein Glaube nützt einem anderen vielleicht gar nichts. Ich als bekennende Thomasine kann von Natur aus gut mit Nicht-Verstehen umgehen, weil es sowieso ein Teil meines Glaubenslebens ist.

      Ok…. jetzt ist das sehr persönlich. Ich würde einfach gern ein bißchen mehr über guten Umgang miteinander in Schicksalsschlägen lernen. Vielleicht kann man ja anderen in Liturgien oder besonderen Gottesdiensten oder auch in einem ganz normalen Gottesdienst noch einen Platz schaffen, den akut betroffene Leute für den Moment einfach nicht selbst für einander schaffen können.

      Es müsste ein Platz mit sehr wenig Worten sein. Und Erlaubnis zum Nicht-Wissen… Ohne Bewertung. (Genau das Gegenteil von den frommen Stärken….)

      Um all der Menschen mit ihren Lasten und Tragödien willen, würde ich es unendlich wichtig finden, diese Plätze bewusst zu schaffen und vor unserem „ich hab jetzt die Antwort“ zu beschützen.

      1. Ich habe im Rahmen von Thomasmessen verschiedene Möglichkeiten erlebt, Trauer, Wut und dem Hadern mit Gott einen Raum zu geben, der individuell gefüllt werden kann, aber vom Gesamtrahmen getragen wird.

        Das jeweilige Team, das vor Ort eine Thomasmesse vorbereitet und durchführt, kann das mit ganz unterschiedlichen Elementen gestalten.

        https://www.thomasmesse.org/inhalt/thomasmesse-was-ist-das

        Häufiger Andachten mit Abendmahl wären auch mal ne Maßnahme… Das regelmäßige Abendmahl ist uns in den letzten 500 Jahren ein bisschen abhanden gekommen…

  1. Ihr Lieben,

    was für ein Talk! Vielen Dank für Eure Offenheit!
    Ich habe lange überlegt, ob ich etwas schreiben soll, kann oder darf. Ich habe keine Kinder.

    Deshalb möchte ich jetzt auch gar nicht mit den Todesfällen und Folgeereignissen kommen, die um die Jahrtausendwende meine Welt nachhaltig zerschmettert haben. Mir ist durch Euch aber ganz schön klar geworden, wie sehr mein heutiger Glaube mit dem Zerbruch in meinem Leben zu tun hat.

    Ich hatte sowieso schon eine Glaubenskrise, und als es mir verschiedene Säulen meines Lebens nacheinander wegriss, gab das meinem übriggebliebenen agnostischen Glauben den Rest. Ich hab Gott noch nicht mal Vorwürfe machen können, denn ich war fest überzeugt, es gibt ihn nicht. Ich weiß noch, dass ich beim einzigen Mal, als ich damals die Bibel aufschlug, nur Kohelet gelesen habe.

    Irgendwann und immer wieder mal fing ich erstaunlicherweise dann aber doch an, auch mal zu beten, obwohl ich gar nicht sicher war, ob mir jemand zuhört. (Vielleicht betete ich ganz banal nur deswegen, weil ich als Ex-Christin diese praktische Tätigkeit des Betens kannte und an manchen Punkten einfach nicht mehr wusste, wohin mit mir….) Das Vaterunser, für mehr war ich zu sprachlos (und als liberal Geprägte sowieso zu ungeübt). Beim Beten selber war ich mir aber plötzlich sicher, dass es Gott „irgendwie“ gibt. Ich wusste nicht, ob ich ihn „mag“, aber ich habe ihm alles hingehalten (sprachlos in den Formeln des Vaterunser), das war ja schließlich sein Job! Komischerweise tröstete es mich, obwohl mir Gott fern und unbekannt vorkam und ich gleichzeitig eigentlich ja nicht an ihn glaubte…

    Es war damals eine Art Paradox, das Ihr mit anderen Worten auch beschrieben habt. Dietrich Bonhoeffer (den hatte ich als 17-Jährige schon gelesen, aber das Existentielle nicht verstanden… jetzt las ich seine Briefe aus der Haft nochmal) hat das so gesagt: Ohne Gott an der Seite stehen wir vor Gott. Oder ein anderes Paradox, das die Struktur vieler Klage-Psalmen ist: Mit Gott (in seinem Namen) gegen Gott.

    Mir ist heute etwas sehr wichtig, was Ihr auch gesagt habt. Dass Gott ein Geheimnis ist. Ich habe einen enormen Respekt, manchmal sogar ein Erschrecken… Deshalb komme ich mit einigen modernen Formen und Interpretationen des Glaubens gar nicht klar (das sind dann die Momente, wenn ich hier bei Hossa so „orthodox-altmodisch“ werde…), und ich habe prinzipiell Probleme mit allen Theologien, die Gott erklären wollen. Oder ihn radikal verweltlichen.

    Ja, seine Wege sind unergründlich. Für mich ist das keine fromme Floskel, sondern so habe ich ihn erlebt. Damit setze ich mich oft bei Post-Evangelikalen wie Liberalen gleichermaßen in die Nesseln. Ich bleibe aber dabei: Für mich war und ist es, nach allem, was in meinem Leben passiert ist, v.a. eine Entlastung, dass ich nicht alles verstehen muss, obwohl sich für meine schräge Lebenslinie inzwischen so eine Art Sinn ergeben hat. (Und dass ich wieder glaube, ist sowieso ein echtes Wunder.)

    Der Boden unter meinen Füßen kann jederzeit und urplötzlich wieder sehr dünn werden. Es gibt die Abgründe, in die wir fallen können, da können wir als Persönlichkeiten so „stark“ und „gesund“ sein, wie wir wollen. (Deshalb misstraue ich allzu psychologischen Bibelauslegungen.) Und unter anderem deswegen gehe ich auch lieber in klassische Gottesdienste mit traditioneller Kirchenmusik, die tiefer ist als das meiste Lobpreis-Gedudel, das ich kenne.

    „Ach, Gott, verlass uns nicht.“ Diese Zeile eines meiner Lieblingslieder ging mir bei dem Talk die ganze Zeit durch den Kopf. Als Ihr die Paul-Gerhard-Lieder erwähnt habt, kamen mir die Tränen…

    Ganz liebe Grüße, Ihr!

    Seid alle gesegnet, die Ihr in Trauer und/oder einem Scherbenhaufen sitzt!

    Ina

  2. Kathrin van Dijk

    Danke für den Talk.
    Ich kann ihn nur in ‚Häppchen‘ hören, heftig, wundervoll, furchtbar, reich und verstörend.
    Selber habe ich solch eine furchtbare Situation bislang nicht erleben müssen (bin verschont geblieben?!? Keine Ahnung.), aber im sozialen Umfeld mehrere Kindstode mitbekommen. Das hat meinen Glauben erschüttert und tut es immernoch.
    Ist für Gott das Hier und Jetzt mit Körperlichkeit und Gefühlen relevant? Interessiert ihn das? Hat Beten diesbezüglich überhaupt Sinn? Welche Art von Beten bringe ich meinen Kindern bei nach solchen Erfahrungen?
    Ich bin noch lang nicht mit solchen Fragen fertig.
    Unfassbar fand ich, wie eine Bekannte, deren Kind mit 5 an Leukämie gestorben ist, berichtete, dass ihr aus ihrem Brüder-Gemeinde-Umfeld tatsächlich entgegengeschallt ist ‚Das ist die Folge Deines sündigen Lebens.‘ (Das Kind war unehelich.) Wie können sich Menschen gegenseitig so etwas antun?!?

  3. Ich musste mich von der Zukunft, die ich für meinen Sohn vor Augen hatte verabschieden als es hiess er sei autistisch. Das war als er ca. 1 Jahr alt war. 10 Jahre später dann musste ich mich wieder von allen (schon reduzierten) Plänen lösen als er auch noch an paranoider Schizophrenie erkrankte. Das war die noch viel schlimmere Zeit. Kapier manchmal nicht was Gott einem manchmal zumutet. Aus lauter Trauer entwickelten sich bei mir gleich mehrere Autoimmunkrankheiten, unter anderem Lambert Eaton. Ich muss mich jetzt auch von meiner eigenen Zukunft verabschieden, laufe inzwischen durch die Krankheit so schlecht dass es wohl auf den Rollstuhl hinauslaufen wird. Und Leute wollen mir erzählen ich müsse nur genug glauben damit ich (und auch mein Sohn) gesund werden….Er ist 24 und bis jetzt habe ich daran festgehalten, komme aber jetzt an die Grenze….Shit happens….das ist das was ich jetzt glaube….und Gott greift noch lange nicht immer ein nur weil wir uns das letzte Bisschen Glauben rausquetschen….ob ich weiter an Gott glauben kann oder ihm vertrauen kann weiss ich nicht….

    1. ja, die meisten dieser Krankheiten haben wir auch zuhause. Das ist nicht unbedingt was, womit andere gut klarkommen. Ob du Glauben rausquetschen musst???? Ich finde nicht. Ich bin besser gefahren mit dem Wunsch: Gib mir Kraft und Weisheit für heute. Und bleib mein Freund. Ich hab mich von allen Leuten distanziert, die mir Rezepte anbieten wollten und es nicht akzeptieren wollten, dass es eben keine Antwort gibt.
      Hast du Austausch mit Leuten (anderen Eltern evt:) die sich damit auskennen? Eins unserer Kinder hat auch (im Moment sehr gute eingestellte) paranoide Schizophrenie, es gab aber auch schon wahnsinnig heftige Zeiten, wo wir dachten, wir verlieren sie. :(. Jetzt hat sie halt dieses doch sehr reduzierte Leben, aber sie macht es toll…. Und leider bin ich auch jemand, die psychosomatisch reagiert mit ebenfalls heftigen körperlichen Krankheiten.

      Was ich oben geschrieben habe, wegen Wut, und dass ich nicht damit umgehen kann, ist leider manchmal so,, weil ich merke, dass es mir in manchen Zeiten das letzte bißchen Kraft nimmt, wenn jemand sozusagen noch seinen eigenen Gefühlseimer über mir ausgießt. Was aber nicht bedeutet, dass ich es nicht verstehen kann. Ich kanns nur nicht tragen. Ich glaube, es braucht eben viele verschiedene Menschen und Orte, und Musik, bei der man seine Wut und Ohnmacht rauslassen kann , ist auch für mich sehr wichtig. Metal ist schon super, oder so Punkrock wie die Toten Hosen…. das ist wirklich schwer zu finden im christlichen Bereich., und es gehört definitv zu unserem Leben, auch diese Gefühle nicht unterdrücken zu müssen.

      Ob man eher ins düstere melancholische oder ins agressive geht, ist halt Persönlichkeitssache. Wichtig finde ich, dass du weißt, du bist bei Gott ok und willkommen, egal, wie deine Gefühle sind. Das ist doch das Besondere am Christentum: Come as you are! Freundschaft legt keinen Wert auf Ettikette, und er ist stark und hält ALLE deine Gefühle aus. Und auch nicht nur 10 Minuten. Aber selbst Glauben rausquetschen müssen, das ist wahrscheinlich ein Holzweg. Klar, man probiert es…. aber wenn es nicht klappt, heißt das noch lang nicht, dass es das Ende eurer freundschaft ist.

        1. 🙁
          Das ist unglaublich krass. Wenn du es auch willst, Christina, frag mal Jay ob er uns auf FB miteinander bekannt machen kann.

          LG, die Elbenfrau

          1. Frag ihn nach meiner email Adresse. Jay, die darfst du an elbenfau weitergeben! Hoffe, er liest das hier.

  4. Inzwischen verstehe ich sowas wie Metal-Musik, die für mich perfekt die Tragik des Lebens und Trauer, Wut, etc…ausdrücken kann. Ich spiele E-Gitarre und das ist jetzt gerade ein Thema für mich. Ich liebe es damit alles rauslassen zu können. Sehr schade dass in christlichen Kreisen diese Musik so abgewertet wird….kommt natürlich auf die Texte an aber die Power der Musik passt einfach manchmal besser zu unseren Gefühlen als immer dieses weichgespülte Gedudel…..In der Schweiz gibt es einen „Pionier“ in dieser Sache: Samuel Metalpfarrer aus Niederbipp
    Das finde ich sehr spannend.
    Jede Musik hat ihre Berechtigung weil wir alle verschieden sind und sich so alle Facetten menschlichen Lebens darstellen lässt….

  5. https://youtu.be/4OELrFqOP2c

    das ist eigentlich eins der Lieder, die immer gehen…. HALT MICH….

    Das war echt mein Wunsch an Gott, als alles Scheiße war. All die alten Glaubenssätze nicht mehr funktionierten. Ich dachte, also, ich selber kann den Glauben nicht festhalten. Wenn es dich gibt Gott und du irgendwie Interesse an unserer Beziehung hast, HALT MICH FEST!

    Ich mag an dem Lied, dass es nicht mehr irgendwelche Hoffnungen auf Veränderungen durch „Richtigen Glauben“ besingt. Denn das hängt einem irgendwann so was von zum Hals raus.

    und für dich, Christina: https://youtu.be/2ykK9FdqP80

    Das kannst du ganz bestimmt gut mitspielen auf der E-Gitarre. Turn it on 10 <3 <3 <3

  6. Hallo ihr,

    danke für diesen sehr tiefgängigen Talk mit eurer Ehrlichkeit, was euer Gefühlsleben angeht. Ich erlebe beruflich gerade viele Männer, die auch in ihrer Trauer sehr zurückgezogen, nach außen hin fast emotional kalt wirken, weil sie immer noch dem vermeintlichen Ideal eines starken Mannes hinterherjagen, der ja keine Emotion zeigen darf, weil es ja als Schwäche gedeutet werden könnte. Insofern ward ihr da sehr wohltuend in eurer authentischen und ehrlichen Art.

    Ich habe während des Hörens viel über die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern nachgedacht – über die Tatsache, dass ich eine wirklich bedingungslose Liebe selbst erst kennenlernte, als ich Mutter wurde. Natürlich liebe ich auch meinen Mann, meine Familienmitglieder und andere Menschen, aber diese Form der Liebe ist nicht wirklich bedingungslos – es besteht durchaus zumindest das potentielle Risiko, dass diese Liebe unter bestimmten Voraussetzungen schwinden könnte. Die Liebe zu meinem Kind aber ist bedingungslos, war direkt von Anfang an da und besteht völlig unabhängig davon, wie sich das Kind verhält. Für mein Kind würde ich alles geben, notfalls auch das eigene Leben. Das ist eine starke, schon fast urgewaltige Liebe, die ich vorher so nicht kannte.
    Und deshalb ist auch bei mir eine ganz starke Angst da, dieses Kind verlieren zu können.
    Ich kann nur ansatzweise nachvollziehen, wie schlimm und schwer das für euch gewesen sein muss, das eigenene Kind tot in den Armen halten zu müssen.

    Spannend finde ich, dass ja auch die Liebe Gottes zu uns Menschen in der Bibel nicht mit einer Liebe zwischen Partnern oder Freunden verglichen wird, sondern ebenfalls das Bild von der Liebe eines Vaters zu seinen Kindern gebraucht wird (mal abgesehen von manchen Deutungen zum Hohen Lied, die ich aber zweifelhaft finde) – eben, weil es da ja auch um diese bedingungslose Liebe geht, die alles andere übersteigt.
    Das war mir auch früher nicht so klar, dass diese Liebe durch den Elternvergleich eigentlich auch wirklich diese Bedingungslosigkeit impliziert, die vorher für mich oft nur leere Hülse war, denn gut-fromm-evangelikal geprägt musste man ja doch dann die 1001. Regel des christlichen Verhaltens einhalten, um schön gottgefällig zu leben – so wirklich bedingungslos fühlte sich das nicht an.

    Deshalb hatte ich aber auch ein Problem an der Stelle in diesem Talk, als Arne sagte, dass Jesus am Kreuz ja 3 Tage von Gott verlassen war, dass er in seiner Todesstunde völlig allein gelassen war von Gott.
    Jay und Gofi, ihr habt dem, wenn ich mich richtig erinnere, so zugestimmt, aber ich hatte da Probleme. Denn Jesus und Gott werden ja auch als Vater und Sohn dargestellt und das geht für mich eben mit dieser bedingungslosen Liebe wiederum nicht zusammen, dass ein Vater gerade im größten Leid sein Kind einfach so im Stich lässt.
    Meintet ihr das wirklich so?

    Viele Grüße
    Provinzdoc

    1. Hallo Provinzdoc,

      Ich verstehe Dich SEHR gut! Deine Frage ist aber auch ein bisschen „tricky“. Verzeih mir, wenn ich deshalb ein bisschen aushole.

      So weit ich sehen kann, haben die Evangelien hier komplett unterschiedliche Schwerpunkte. Das sieht man sehr schön, wenn man die letzten Sätze Jesu am Kreuz miteinander vergleicht. Bei Markus und Matthäus ist es das berühmte „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“. Das taucht im Lukanischen Bericht gar nicht auf und wird vom gegensätzlichen und versöhnlicheren „Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist“ ersetzt. Auch bei Johannes findet sich der Gedanke, dass Jesus am Kreuz von Gott verlassen wurde, nicht. Der wird hier vom (in meinen Augen) noch gegensätzlicheren, ja beinah triumphalistischen „Es ist vollbracht“ ersetzt. (Wobei „ersetzt“ natürlich so eine Sache ist… bei Lukas passt das mit hoher Wahrscheinlichkeit schon, da ihm mit großer Sicherheit das Markusevangelium vorlag, er dessen letzten Satz dann aber bewusst weggelassen, bzw. eben ersetzt hätte. Johannes ist als Evangelium ja nahezu komplett eigenständig, da kann man dann auch nicht von einer bewussten Ersetzung sprechen – ich hoffe, das war jetzt nicht zu technisch… 😉 ).

      Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Anscheinend gibt es in den Evangelien unterschiedliche Deutungen darüber, was am Kreuz passiert ist. Für die Theologie der einen (Markus & Matthäus) ist der Gedanke, dass Jesus in den letzten Stunden am Kreuz sogar so etwas wie komplette Gottesferne erleiden musste, anscheinend elementar. Für die beiden anderen nicht, bzw. bei Lukas sogar das Gegenteil. Ich persönlich glaube nicht, dass sich aus all dem DIE Kreuzestheologie stricken lässt, weshalb ich mich ja auch immer wieder dagegen ausspreche, so was wie z.B. die Sühnopfertheologie als den Maßstab für den rechten Glauben zu formulieren. Schon die Evangelisten sind sich nicht einig, was genau am Kreuz genau passiert ist (wie man in der Frage nach der Gottesferne unschwer erkennen kann).

      Ich persönlich versuche das nicht zu bewerten, in dem ich den einen Gedanken gegen den anderen ausspiele oder indem ich alle Evangelien versuche übereinander zu legen, um damit das „ultimativ wahre“ Kreuzesgeschehen nachzuzeichnen (das wäre m.E. nur mit erheblichen Gehirnverenkungen möglich und würde die einzelnen Aussagen der realen Evangelien letztlich homöopathiesieren). Ich bewerte das nicht, sondern nehme es wahr und lasse es nebeneinander stehen (so wie die Bibel es ja auch tut). Mehr als die Bibel habe ich ja nicht, um mich dem Kreuz zu nähern. Will sagen, wenn Lukas und Johannes, die erlittene Gottesferne am Kreuz nicht wichtig ist (bzw. Lukas sogar eher das Gegenteil anzudeuten scheint), wieso sollte es Dir wichtig sein? Glaub an diesem Punkt doch einfach lukanisch oder johannäisch! 🙂

      Deine Mühe mit dem „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ kann ich total nachvollziehen. Auf theologischer Ebene aber vor allem auch emotional. Ich persönlich würde den Satz aber auch nicht streichen wollen (wie Lukas). Es steckt z.B. so viel Trost darin, dass Jesus sogar meine Gottesferne durchlitten hat, das würde ich nicht opfern wollen. Für mich bedeutet der Satz in all seiner Paradoxie aber z.B. auch, dass endgültig ein Strich durch die Vorstellung gezogen wurde, dass es irgendeinen Ort gäbe, an dem Gott nicht gegenwärtig ist. Wenn Jesus von Gott verlassen wurde, er aber selber Gott ist, dann ist damit ein für alle Mal gesagt, dass Gott eben auch dort ist, wo er nicht ist – denn genau da hängt er ja. Mitten in der Gottverlassenheit. Das war der Hintergrund meiner Zustimmung im Talk.

      Dein Problem damit ist aber genauso berechtigt, finde ich (wie gesagt, Lukas konnte mit diesem Satz anscheinend auch nicht mit).

      Also noch mal, ich versuche das nicht aufzulösen, sondern bewusst als unterschiedliche Deutungswege nebeneinander stehen zu lassen. Und wenn mich jemand fragt, ob ich glaube, ob Gott Jesus am Kreuz verlassen hat, dann zucke ich mit den Achseln. In Predigten kann ich mir gut vorstellen, mal den einen Punkt und mal den anderen zu betonen. Und wenn dann jemand fragt, wie das alles denn zusammenpassen solle, dann antworte ich, so wie es ist: Ich weiß es nicht. Aber der Bibel geht es ja glücklicher Weise genauso. 🙂

      Beantwortet das Deine Frage?

      LG,
      der Jay

      PS Vielleicht gefällt dir aber auch das besser: Manche gehen den Weg, darauf hinzuweisen, dass der Satz „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“, den Jesus bei Markus und Matthäus sagt, ja der Anfang von Psalm 22 ist. Es sei daher wahrscheinlich, dass Jesus den ganzen Psalm gebetet habe. Und wenn Du diesen liest, dann endet der gerade nicht mit der erlebten Gottesferne, sondern damit das Gott den Psalmisten errettet und sein Geschick wendet. Und dann hätte Jesus am Kreuz genau das Gegenteil von dem gemacht, was man denkt, wenn man den Satz „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ hört. Er hätte damit sein Vertrauen darin ausgedrückt, dass Gott eben nicht ferne sei, sondern ihn erretten würde (z.B. durch die Auferweckung). Ich finde das einen gehbaren Weg, um ein einheitlicheres Verständnis der Evangelien hinzukriegen oder auch um seine emotinalen Dissonanzen mit der Vorstellung, Gott habe Jesus allein gelassen, loszukriegen. Aber damit verlöre man eben auch die Gottverlassenheit Jesus (und die Anfrage, warum Markus und Matthäus Jesus als letzten Satz den Anfang des Psalms und nicht das Ende sprechen lassen, wenn sie damit eigentlich das Gegenteil von dem hätten aussagen wollen, was der Satz für sich genommen sagt, wäre, finde ich, schon eine berechtigte). Wie gesagt, ich will die Gottverlassenheit Jesu nicht verlieren. Sie ist mir teuer. Deshalb gehe ich diesen Weg nicht, sondern mache es, wie beschrieben. Mal Markus, mal Lukas. Ohne Entscheidung, wer Recht hat. Ganz so, wie es hilft. 😉

      1. Hallo Jay,

        danke dir für deine ausführliche Antwort, die mir hilft, euch da besser zu verstehen.

        „Will sagen, wenn Lukas und Johannes, die erlittene Gottesferne am Kreuz nicht wichtig ist (bzw. Lukas sogar eher das Gegenteil anzudeuten scheint), wieso sollte es Dir wichtig sein? Glaub an diesem Punkt doch einfach lukanisch oder johannäisch! “

        Das ist ein guter Vorschlag – danke für den gesamten Input, mir ist das noch gar nicht aufgefallen, dass die Gottesferne nur in 2 der 4 Evangelien überhaupt eine Rolle spielt – in den meisten christlichen Kreisen bekommt man ja *die“ Kreuzesgeschichte vorgesetzt, wie wenn es eben nur die eine, in allen 4 Evangelien quasi gleiche, Version gäbe…

        „Es steckt z.B. so viel Trost darin, dass Jesus sogar meine Gottesferne durchlitten hat, das würde ich nicht opfern wollen. Für mich bedeutet der Satz in all seiner Paradoxie aber z.B. auch, dass endgültig ein Strich durch die Vorstellung gezogen wurde, dass es irgendeinen Ort gäbe, an dem Gott nicht gegenwärtig ist. Wenn Jesus von Gott verlassen wurde, er aber selber Gott ist, dann ist damit ein für alle Mal gesagt, dass Gott eben auch dort ist, wo er nicht ist – denn genau da hängt er ja. Mitten in der Gottverlassenheit. Das war der Hintergrund meiner Zustimmung im Talk. “

        Ja, in dieser Hinsicht kann ich das auch gut nachvollziehen und mir geht es da schon auch wie dir, dass ich das durchaus auch als tröstlich wahrnehme – aber andererseits nimmt mir das auch wieder ein Stück von meiner Hoffnung an einen allmächtigen Gott, der eben stärker als alles andere ist, auch stärker als der Tod und all das Böse.
        Ach menno, warum muss das immer so schwer sein.

        Vielen Dank für die guten Gedanken!
        VG Provinzdoc

  7. Liebe Provinzdoc,

    ich sehe das im Prinzip so ähnlich wie Jay, würde aber noch gerne einen anderen Punkt ins Spiel bringen. Ich könnte mir vorstellen, dass Du die Verlassenheit Jesu auch deshalb so schlimm findest, weil in manchen christlichen Kreisen (nämlich v.a. bei den neo-calvinistischen Evangelikalen) behauptet wird, Gottvater habe sich vom Sohn abwenden müssen, weil er die geballte Sünde, die Jesus trug, nicht ertragen habe. Und DAS ist wirklich eine schlimme Theologie, aber eben nur eine unter vielen (und historisch sehr jung).

    Mir bedeutet die „Verlassenheit“ sehr viel, weil ich dadurch weiß, dass Jesus wirklich alle menschlichen Abgründe durchlitten hat und diese Erfahrungen in Gott eingegangen sind. Ich glaube aber nicht, dass Gottvater den Sohn tatsächlich verlassen hat, sondern nur, dass Jesus das so gefühlt hat.
    Das „Schweigen Gottes“ bzw. der „verborgene Gott“ meint z.B. bei Luther etwas, was der Mensch empfindet, nicht unbedingt etwas, was wir Gott als sein Tun unterstellen dürfen. Diesen Gedanken wende ich auch auf Jesus an…

    Ich nehme hier sehr ernst, dass die junge Kirche auch schon versucht hat, sich auf diese ganzen Vorgänge einen Reim zu machen, und daher auf Konzilien ausgearbeitet hat, dass Gott dreifaltig ist und dass Jesus kein Halbgott, sondern sowohl ganz Mensch als auch ganz Gott war. „Ungetrennt und unvermischt“, also eine „Doppelnatur“ (was ein Paradox ist).

    Das heißt dann ja, dass der Mensch Jesus alles ganz echt menschlich erlebt hat. Schon in der Nacht vorher in Gethsemane die volle Panik und am Kreuz die Schmerzen, die Scham (er war wohl komplett nackt ohne Lendentuch, wie man heute weiß) und Todesangst. Ein Mensch unter Folter verliert jeden Sinn und alles Gute, wie man von überlebenden Opfern weiß (Klassiker dazu: Elaine Scary, „The Body in Pain“). Bis er ohnmächtig wird oder aus der Situation „herausgebeamt“ wird (da gibt es ja Berichte von Opfern, die plötzlich religiöse Erlebnisse hatten, dass sie ihren Körper verlassen). Und genau so stelle ich mir das bei Jesus vor, die volle Bandbreite, die in den Evangelien unterschiedlich theologisch akzentuiert wird.

    Also langer Rede kurzer Sinn: Der Mensch Jesus hat alles durchgemacht, was jeder Mensch durchmachen würde – inklusive den Abgrund der Todesgrenze und die Auflösung jeglichen Sinns. Da er aber Teil der Dreifaltigkeit Gottes ist, ist alles nun auch Teil Gottes. Eine enorme Aufwertung des Menschlichen und die Offenbarung der Liebe Gottes für die Menschen.

    Liebe Grüße
    Ina

    P.S. @Jay

    Ostersamstag ist für mich deshalb auch kein „Gott-ist-tot-Tag“ (wie Du mal in einer Osterfolge von Hossa sagtest), weil Gott ja dreifaltig ist. Ein Teil von ihm ist gestorben. Obwohl man die Trinität natürlich nicht „auseinanderschneiden“ kann und sollte.

    Das hier tröstet mich nämlich gerade nicht:
    „Wenn Jesus von Gott verlassen wurde, er aber selber Gott ist, dann ist damit ein für alle Mal gesagt, dass Gott eben auch dort ist, wo er nicht ist – denn genau da hängt er ja.“

    Das ist die Denkfigur einiger Theologen nach Auschwitz und der Gott-ist-tot-Theologie von z.B. Dorothee Sölle (die mich irgendwann meinen Glauben verlieren ließen, als ich sie zu wörtlich genommen habe…). Und es ist momentan auch bei vielen Mainstream-Theologen sehr in, Gottes Allmacht einzuschränken.

    Wie aber kann ein machtloser Gott jemandem im Abgrund beistehen? Die Idee des Mitleidens hilft ja nur, wenn es auch einen transzendenten Aspekt gibt, wenn also das Leiden irgendwo aufgehoben ist. Da kommen wir mit dem dreifaltigen Gott (den wir logisch aber nicht aufdröseln können) irgendwie weiter, meine ich… Auch die Auferstehung funktioniert nur dann, wenn nicht der „ganze Gott“ tot war…

    Ich stelle mir das Kreuzesgeschehen (Allmacht und Ohnmacht, Zerstörung und Versöhnung, Tod und Auferstehung) eher wie eine Figur und ihren Hintergrund vor. Da gibt es doch solche optischen Kipp-Bilder: je nachdem, worauf sich das Auge einstellt, sieht man zwei unterschiedliche Bilder/Figuren, die jeweils für einander den Hintergrund bilden. Aber man kann niemals beide Figuren zugleich sehen, weil jede Figur nur aufgrund ihres Hintergrunds in den Vordergrund rückt. Beide Figuren bedingen sich gegenseitig.

    Hoffe, ich konnte mich verständlich ausdrücken…

    1. Klar hast Du Dich verständlich gemacht, das kannst Du ja gar nicht anders 🙂

      Die Kippbilderfigur ist gut. Vielleicht kann diese Metapher ja helfen, die unterschiedlichen Betonungen der Evangelien mehr miteinander zu denken. Ich finde gerade in der Kreuzesbeschreibung lassen sich die verschiedenen Berichte nämlich so gut wie gar nicht miteinander (als ein Ganzes) lesen. Aber wie gesagt, ich finde das gar nicht schlimm. Es gab ja mal das Bestreben in der jungen Kirche, eine Evangelienharmonie herzustellen, also einen Bericht, der die vier Evangelien von allen Widersprüchen bereinigt miteinander harmonisiert als eine Geschichte bringt. Ich bin froh, dass sich das nicht durchgesetzt hat. Die 4 Evangelien sind in ihrer Gegensätzlichkeit so viel wertvoller, herausfordernder und inspirierender, finde ich. Aber dazu muss man natürlich bereit sein, sich von dem Gedanken zu lösen, man würde in einem der 4 oder in allen zusammen „die ganze Wahrheit“ präsentiert bekommen.

      Die Trinität lasse ich persönlich beim Kreuzgeschehen ehrlich gesagt lieber außen vor. Als philosophisches/ theologisches Argumentationsmodell kann man das natürlich machen, aber viel mehr als Spekulationen bleiben einem da doch nicht. Die Evangelien selber konzentrieren sich auf das Geschehen aus dem menschlichen Blick. Und da stirbt Gott (deshalb bleibe ich auch gerne beim Gott-ist-tot-Tag; und ja, du weißt, ich mag Sölle 😉 ). Darüber, was das für die Trinität bedeutet (oder aus ihrer Perspektive) kann man natürlich nachdenken, aber die Evangelien tun das ja gerade nicht, sondern setzten eher narrative Punkte. ZB: Gott stirbt gottverlassen. Mit zu viel Trinität klingt der Satz „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ in meinen Ohren eben schnell so, als meint er nicht wirklich, was er sagt. Gerade gezogen, kriegt man das alles eh nicht, also arbeite ich lieber mit den einzelnen Berichten und ihren Unterschiedlichkeiten und spare mir den Versuch, da ein funktionierendes System draus zu basteln.

      BTW, Lukas, der ja die Gottverlassenheit nicht thematisiert, bzw. ersetzt hat, liefert dann witziger Weise wahrscheinlich noch die trinitarischste Beschreibung („VATER, ICH befehle meinen GEIST in deine Hände!“ – jedenfalls könnte man das so lesen).

      LG,
      der Jay

      1. Du weißt aber schon, dass Sölle ins Grübeln kam, als ihr zwei Studentinnen widersprachen? Weil beide nämlich in sehr tiefem Leid das Gebet wiederentdeckt hatten, und das setzt voraus, dass man an die Allmacht Gottes glaubt. Dass Gott wirkt, obwohl er Sölles Meinung nach „tot“ oder ohnmächtig war, hat sie schon baff gemacht. 🙂

        Weiter oben hatte ich ja was zur paradoxen Struktur des Gottesverhältnisses im Leid geschrieben. In den Psalmen oder bei Bonhoeffer. Ohne Gott (man fühlt ihn nicht / man ist umzingelt von Feinden), aber in seinem Namen (man packt ihn bei seinen Zusagen) wendet man sich an ihn. Genau das tut Jesus auch, er betet in der Verlassenheit. Ohne dass wir wissen, ob es was subjektiv für ihn „gebracht“ hat.

        Ich glaube, wir missverstehen uns an dem Punkt, dass Du glaubst, ich würde eventuell die Gottverlassenheit Jesu nicht ernst nehmen, wenn ich sage, dass seine Ohnmacht nur vor der Hintergrundfolie der Allmacht Gottes erlösend sein kann. Das ist aber nicht so. Gerade das Leiden Jesu hat mich immer davon überzeugt, dass das Christentum die einzige Religion für mich sein kann.

        Und selbstverständlich hat Jesus nichts anderes am Kreuz gesagt, als dass er am tiefsten Abgrund angelangt ist! Hab ich doch geschrieben. 😉 Ist für meinen persönlichen Glauben auch ganz zentral, dass Gott Leid und Verlassenheit aus der eigenen Perspektive kennt.

        Das Problem mit der Gott-ist-tot-Theologie ohne Trinität ist schlicht und ergreifend:
        1. Wie soll ein Gott, der tot ist, auferstehen? (Das NT sagt ganz klar, dass Jesus nicht „von selbst“ auferstanden ist, falls es überhaupt was dazu sagt.)
        2. Wenn Gott tot ist, bleibt alles an mir hängen.
        Dann muss ich sogar noch ohne ihn das Reich Gottes bauen. (Konsequenterweise waren wir alle damals im Gefolge von Sölle superpolitisch – ohne Gott, den brauchte ja niemand). Willkommen in der liberalen Variante der Werkgerechtigkeit, durch die wir uns selbst erlösen wollen (und völlig überfordern…)

        Dass es in der Bibel keine ausformulierte Trinität gibt, ist meiner Ansicht nach kein Argument. Bei der Taufe Jesu sieht man schon, dass Gott in sich differenziert ist. Und ein ganz frühes christliches Gebet lautete: Zum (und vom) Vater durch den Sohn im Geist. Die Konzilien haben das später dann nur noch versucht zu systematisieren (und gegenüber der griechischen Philosophie zu rechtfertigen), was schon längst von der Mehrheit geglaubt wurde.

        Die ältesten Schriften des NT sprechen auch davon, dass wir es mit einer Dynamik zwischen Gottvater, Christus und dem Geist zu tun haben: die Paulus-Briefe.

        Die Evangelien haben nur wenig theologischen Anspruch und verstehen sich selbst vorrangig als Berichte (obwohl sie das nach unserem heutigen Verständnis nach natürlich nicht sind, aber das ist für das Selbstverständnis ja egal). Folglich erklären sie auch nicht viel, unterscheiden aber zwischen „Vater“ und „Sohn“ (seltener „Geist“). Und daher beschreiben sie nicht, dass Gott tot ist, sondern dass der, von dem die Jünger dachten, er sei der Messias oder gar Sohn Gottes, tot ist (und folglich ein „falscher Messias“ war). Wie Jesus mit Gott zusammenhängt, wurde doch erst nach Ostern seit den Christusbegegnungen Thema.

        Wenn Du das schon spekulativ findest, tja, willkommen im Club! Das ist ja seit 2000 Jahren die Herausforderung, weder alle drei in einem Gott aufzulösen noch die drei so scharf abzugrenzen, dass wir drei Götter bekommen. 😉

        Dass man die Evangelien nicht harmonisieren kann, sehe ich auch so. Ich hatte oben Provinzdoc gegenüber nur sagen wollen, dass die menschliche Natur Jesu gut möglich ALLES erlebt haben kann, was beschrieben wurde. (Realistischerweise sogar nacheinander, aber das würde ich nie abschließend festzurren wollen.)

        LG, Ina

        1. Äh, nur damit wir uns nicht falsch verstehen, ich bin der totale Trinitätsfan. Und natürlich sehe ich die Trinität in der heiligen Schrift auch deutlich bezeugt (wenn auch nicht dogmatisch gelehrt). Ich bin da also ganz bei Dir. Als theologisches Konzept hat sie einigermaßen Unterhaltungswert – spannend wird sie mE erst, wenn man sie zu leben beginnt oder vielmehr mit ihr und in ihr zu leben beginnt. Theologische systematische Lehrgebäude interessieren mich dazu irgendwie immer weniger…

          Spekulativ wird es mE eben da, wo man sich versucht auszumalen, was der Vater und was der Geist wohl gemacht haben, als Jesus am Kreuz gestorben ist. Darüber wissen wir einfach nichts. Deshalb mein Verweis darauf, die Evangelien an der Stelle als das zu nehmen, was sie sind, als Narrationen. Hier wollen einzelne Punkte gemacht und keine Lehrgebäude errichtet werden. Darüber systematisch nachzudenken ist ja schön und gut, verselbstständigt sich aber auch schnell. Irgendwann wird es dann immer verschwurbelter. Die Evangelien habe da einen anderen Zugang. Aber wenn man das Ganze schon trinitarisch zu denken versucht (um jetzt mal meinen Rat geflissentlich zu missachten 😉 ), dann ist Gott ja immer noch Einer. Wenn Jesus am Kreuz stirbt, kann man damit also nicht davon sprechen, dass ein Teil der Gottheit am Kreuz gestorben sei, oder dass ein Gott sein Leben gelassen hätte. Es muss schon DER Gott sein. Sonst betrachtet man das Ganze ja gerade nicht trinitarisch. Wie das Ganze zu denken ist, weiß ich nicht. Ich glaube, das geht auch gar nicht (oder man landet unweigerlich bei 3 Göttern). Wie gesagt, die Evangelien versuchen das auch gar nicht erst. Sie versuchen einzelne, unterschiedliche Punkte zu landen. Mehr ist nicht drin. Das langt aber auch. Deshalb habe ich ja oben versucht zu beschreiben, dass der eine die Gottverlassenheit Jesu herausstellt und der andere das Gegenteil. Wie war es denn nun? Wissen wir nicht. Die Evangelien sind sozusagen Schrödigers Katze. Beides, bis man sich die konkrete Aussage anschaut – und dann aber nur diese.

          Aber noch mal, wenn trinitarisch gedacht in Jesus DER Gott gestoben ist, dann lass ich mir von Dir auch nicht so schnell meinen Gott-ist-tot-Tag madig machen 😉 (Und Sölle, nur weil Du sie als Sprungbrett in den Atheismus missverstanden hast, auch nicht. Bätschi! 😉 )

          Jemand, der den Glauben vornehmlich als systematisches Gebäude sehen möchte, muss das alles maßlos frustrieren. Mir ging es jedenfalls so. Da bleibt dann nur der Weg, entweder zu harmonisieren was da Zeug hält, bis nix mehr übrig ist oder immer verschwurbeltere Vorstellungen zu entwickeln. Wie gesagt, ich halte weder das eine noch das andere für ertragreich. Deshalb feiere ich meinen Gott-ist-tot-Tag und glaube trotzdem daran, dass Jesus vom Vater auferweckt wurde. Deshalb kann ich mich darin bergen, dass Jesus in seiner Gottverlassenheit Gott an den Ort bringt, an dem Gott nicht ist und glaube trotzdem mit Lukas, dass er seinen Geist in die Hände Gottes legen konnte (Gott ihn also keineswegs verlassen hat). Wie gesagt, ich habe mich davon verabschiedet, das irgendwie gerade ziehen zu können. Ich muss das nicht entscheiden. Die Bibel entscheidet es auch nicht, sondern stellt es eben nebeneinander.

          LG,
          der Jay

          1. Öhm, worüber genau reden wir jetzt eigentlich? Du weißt doch, dass ich auch nicht begeistert bin, Gott in geschlossene Lehrgebäude einzusperren (genauso wie ich weiß, dass Du eigentlich die Trinität eine gute Sache findest und Sölle wahrscheinlich deshalb gut findest, weil man mit ihr so schön provozieren kann. 😀 )

            Ich hab auch nicht erklärt, welche Person der Trinität was genau und warum gemacht hat. Ich habe nur darauf reagiert, dass Du sagtest, in der Bibel gäbe es keine Trinitätslehre. Was stimmt, denn sie erklärt wenig, unterscheidet aber die Personen. Nicht mehr und nicht weniger.
            Dass ich da von „Teil Gottes“ gesprochen habe, ist natürlich bereits komplett daneben. Das ist schon Teil des Problems, wenn man über Gott spricht, ist doch klar! (Hab ich aber auch geschrieben, dass man die Trinität nicht „auseinanderschneiden“ darf…)

            Nichts anderes tue ich als Du auch, dass ich beide Sichtweisen verteidige: Gott war tot und ist trotzdem allmächtig (wie hätte er sonst auferweckt werden können). Je nachdem, wie der Fokus meines Gesprächspartners ist, betone ich halt immer gerne die jeweils andere Seite… Und du hast da halt generell einen größeren „Drall“ in Richtung „Gott war tot“, also mache ich das Gegenteil stark, um das Gleichgewicht zu bewahren. Und deshalb habe ich hier neulich erst zum Thema Kreuz jemand anderem gegenüber genau das Gegenteil erzählt: Da Jesus trinitarisch gesehen Gott war, hat Gott sich selbst geopfert (und nicht der Vater den Sohn). Das Kreuz deute ich immer relational. Kippfigur halt. 😉

            Ob ich Sölle missverstanden oder eher konsequent verstanden habe, ist nochmal ne ganz andere Sache. Jedenfalls war sie nicht mein „Sprungbrett in den Atheismus“, das haben andere erledigt, die viel subtiler sind 😉 (und das kann man sowieso nicht verhindern).
            Wenn man wie sie die Allmacht Gottes „abschafft“, dann bleibt halt nur noch Werkgerechtigkeit, das war mein Punkt. Daraus folgen Slogans wie „Gott hat nur deine Hände“ usw. Esther Maria Magnis hat das in ihrem Buch „Gott braucht dich nicht“ ziemlich gut beschrieben, wie einen diese Form des Christentums ersticken kann, spätestens wenn man in die Krise kommt.

            Also lassen wir es dabei, dass wir prinzipiell nicht weit voneinander weg sind, dass mich aber ein einseitiges „Gott ist tot“ eben nicht tröstet.

            LG, Ina

          2. Mir fällt dazu ein (auch zu dem, was Ina sagt): Trinitarisch gedacht wäre es wohl zu kurz gegriffen, dass Gott sich in Jesus opfert. Jürgen Moltmann macht ja immer den Schmerz des Vaters stark. Vielleicht ist es also nicht nur der Sohn, der ruft „Warum hast du mich verlassen?“, sondern gleichzeitig auch der Vater, der ruft „Mein Sohn, warum hast du mich verlassen?“. Beide kennen natürlich die Antwort, schließlich hat Jesus vor seinem Tod allen erklärt, warum er sterben muss (letztlich dem Menschen zuliebe), aber hier geht ja auch nicht um Ratio, sondern um Verlustschmerz. Versteht man die Trinität als „substantiellen Bezug“, also dadurch, dass der Vater vollkommen im Sohn leuchtet und der Sohn vollkommen im Vater, dann könnte man vielleicht sogar sagen, dass in gewisser Weise am Kreuz Gott im Ganzen stirbt.

    2. Hallo Ina,

      danke dir für deine Gedanken dazu!

      Diese Vorstellung, dass Gott sich wegen der Sünde, die Jesus trug, abwenden musste, finde ich ja total gruselig.
      Auch das passt für mich überhaupt nicht zum Bild des liebenden Vaters. Ich liebe mein Kind, auch wenn es gerade die größte Scheiße gebaut hat und mich bis zur Weißglut getrieben hat nicht weniger als dann, wenn es ganz brav ist. Wieso sollte sich dann Gott abwenden müssen – furchtbare Vorstellung.

      „Mir bedeutet die “Verlassenheit” sehr viel, weil ich dadurch weiß, dass Jesus wirklich alle menschlichen Abgründe durchlitten hat und diese Erfahrungen in Gott eingegangen sind. Ich glaube aber nicht, dass Gottvater den Sohn tatsächlich verlassen hat, sondern nur, dass Jesus das so gefühlt hat.“
      Stimmt, das ist auch ein guter Gedanke, dass das quasi eher das emotionale Erleben Jesu und weniger die faktische Wahrheit einer tatsächlichen Gottesferne gewesen sein könnte.

      Viele Grüße
      Provinzdoc

  8. Hey ihr drei,
    vielen Dank für eure Offenheit!

    Ein paar wenige Fragen die mir geblieben sind:

    Wenn ich aufmerksam zugehört habe erwähnt ihr an keiner Stelle die Theodizeefrage Warum Gott das zulässt oder auch „Das/der Böse“, welche Rolle der Teufel dabei spielt.

    Ich habe mich gefragt, warum eigentlich nicht?
    Ist das für euch kein Thema?

    Da würden mich noch eure Gedanken interessieren.

    Und zum “ Wozu?“ ist mir folgender Satz eingefallen:
    Gott macht aus Scheiße Gold.
    (Bitte nicht zuu tiefgründig hören :))

    Liebe Grüße

    1. Bzgl der Lieder find ich das Album „Lifesong“ von Casting Crowns ziemlich gut.
      Vor allem „praise you in this storm“ und „love them like Jesus“

  9. Lieber Alexander,

    danke für den Moltmann-Hinweis! (Wir scheinen ähnliche Bücher im Schrank stehen zu haben. Bisher habe ich Moltmann nur quergelesen, aber jetzt werde ich mir das sauberer anschauen. 🙂 )

    Dass Gott sich selbst opfert, war von mir ein bisschen auf die Spitze getriebenes Argument gegenüber denen, die immer eine bestimmte Sühnopfer-Variante fahren (wo dann der Zorn und die Zufriedenstellung Gottes betont wird, oft auch noch, dass der Vater den Sohn am Kreuz verlassen musste, weil er die Sünde nicht ertragen konnte usw….) Da dachte ich, es sei eine gute Idee, mal die Dreifaltigkeit ins Spiel zu bringen. 🙂 Aber so einfach ist es natürlich auch wieder nicht, wie Du sagst.

    Mit Moltmann kommt man da tatsächlich weiter, sowohl gegenüber den Predigern der umbarmherzigen Variante des Sühnopfers als auch in Bezug auf Ostersamstag. Die Trauer des Vaters finde ich da einen total wichtigen Hinweis, zumal Moltmann das ja nicht komplett neu „erfunden“ hat, sondern es mittelalterliche Gemälde gibt, wo Vater und Geist den toten Sohn halten.

    Obwohl das alles ziemlich paradox ist (ein Wesen in drei Gestalten) kriegt Moltmann das ganz gut hin, weder die Dreiheit auseinander zu reißen, noch alle drei zusammen zu mengen. Mir hat es sehr eingeleuchtet (hab’s gerade nochmal nachgelesen), dass der Ostersamstag wegen Tod des Sohnes und Trauer des Vaters so eine Art „kosmische Schwere“ (meine Worte) oder „mystische Stille“ (Moltmanns Worte) ist. Die Trauer des Vaters ist ein anderes Erleiden des Todes, so ähnlich wie wenn wir den Tod eines geliebten Menschen erleben. Denn den Tod erleben wir immer nur von anderen, nie unseren eigenen. Einheit in Differenz, wenn man liebt…

    Womit wir wieder beim Thema des Talks wären… Danke nochmal an die drei Talker für ihre Risikobereitschaft, sich emotional so auszusetzen!

    Liebe Grüße
    Ina

    P.S.
    Wer Jürgen Moltmann nicht kennt, sich aber interessiert, kann ihn „zwanglos“ in einem Interview kennenlernen, das der SWR vor 4 Jahren mit ihm gemacht hat.

    Er ist ein auch international einflussreicher Theologe, inzwischen 92 Jahre alt, stammt aus einer atheistischen Familie und fing im Krieg an, nach Gott zu fragen. Im Gefangenenlager begann dann sein Glaube (und zwar ganz klassisch: beim Bibellesen). Seine Frau war feministische Theologin.

    https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/zeitgenossen/juergen-moltmann-evangelischer-theologe/-/id=660664/did=12746394/nid=660664/mhqmqr/index.html

    1. Oh danke. Gibt ja viele Sachen auf englisch von ihm, die Amis fahren ziemlich auf ihn ab. Meine pädagogische Bibliothek hat auch einiges. Da werd ich ich in den Semesterferien mal stöbern.
      Und bei Tillich auch.

  10. Hallo, Frau mitdabei :),

    falls du gern liest, würde ich dir das Buch „Offline“ von Pete Craig empfehlen.

    Er erzählt darin seinen Weg, mit Leid und Glauben, als seine Frau eine sehr heftigen und teils unheilbaren Krankheit bekommen hat. Er greift respektvoll sehr viele theologische Konzepte auf, und fasst sie gut zusammen. Erzählt auch ehrlich von seinen Phasen, seinen Zweifeln und den Dingen, die ihm persönlich Halt geben, ist dabei ein wirklich sympathischer Typ, der auch ein Kumpel aus dem Hauskreis sein könnte. .

    Ich finde es ist ein super Buch, weil es irgendwie in freundschaftlicher, lebensnaher Sprache diese ganze unlösbare Theodizee-Frage angeht.

    Mir persönlich bleiben die vorgestellten Theologen oft sehr fremd, es ist manchmal so eine andere Ebene, auf der sich diese Diskussionen dann bewegen, was wahrscheinlich nicht an ihrer Persönlichkeit liegt, sondern an der Sprache.

    Für alle, denen es genau so geht, die aber auch wissen, eine ZU einfache Antwort ist auf jeden Fall fast immer falsch und oft auch absolut schädlich ist (da gibt es ja so Superwisser, die dann sagen. JAAAAA, die Sünde! oder „Der Teufel“. Oder „Eine Prüfung“.), ist das ein schönes, ausgewogenes Buch. (ist auch nicht so teuer, ich glaube 15 Euro oder so, die sich lohnen).

    LG,dieElbenfrau

  11. Hallo ihr Lieben,
    folgende Zeilen hatte ich ursprünglich in Bezug auf eine kritische Lebenssituation zu Papier gebracht. Nachfolgend ist mir klar geworden, dass die auch den Tod aus einer nahen Perspektive schildern …
    —————————————————————-
    Auf und ab

    Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
    Nichts ist vollbracht, selbst Alpträume verblassen
    zu Abziehbildern meiner Gebrochenheit,
    ich war für dieses Kreuz nicht bereit.

    Laufe die Straße auf und ab, grau und leer,
    trage nur meinen Kopf,
    er allein wiegt tonnenschwer
    und liegt mir auf den Schultern, wie ein offenes Grab.
    Ich weiß, was sich darin verbirgt
    und deshalb frage ich nicht nach.

    Laufe den Weg hinab, hinauf bis ans Meer
    und trinke Leere,
    die mich von innen verzehrt.
    Ich wate durch das Warten, durch verhasstes Verharren,
    suche einen Garten, mein Bild zu verscharren.

    Mein Gott, mein Gott, mit welcher Hand kann ich dich fassen?
    Warum habe ich nie verlernt, auch zu hassen,
    was Trauer ist, meine Verlorenheit?
    Ich bin für dieses Kreuz nie bereit.

    Laufe mein Leben lang an einer Hand,
    dem Band der Zeit bin ich nie entkommen.
    Beklommenheit füllt ein gebranntes Kind,
    bringt nicht einmal den Schrei hervor,
    mit dem mein Leben begonnen.
    ——————————————————————–

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