#121 Heiße Eisen – live in Lemgo

35 Kommentare zu „#121 Heiße Eisen – live in Lemgo“

  1. Lieber Jay, deine Ausführungen zum Thema Vergebung sind mit das Beste bzw. Berührendste was ich je dazu gehört habe. Den Satz „Vergebung ist das Einüben in das Wesen Gottes.“ habe ich gleich in mein Notizbuch geschrieben. Herzlichen Dank dafür!

  2. Da sag ich doch direkt: Jay, du hast Recht! Aber Gofi du hast auch Recht!
    Aber du kannst jetzt nicht beiden Recht geben. Da hast du auch wieder Recht!
    Schwierige Kiste irgendwie, vielleicht spaltet Gott dann einfach die bösen Eigenschaften ab, oder so..

    Und man begegnet dann Hitler dem Kunstmaler. Ob das besser wäre? 🙂
    Schöne Grüße vom Matze

  3. Zu der Prädestination: Das mit dem „Plan für mein Leben“ halte ich für ziemlich unbiblisch. Denn an den typischen Prädestinationsstellen (in Römer 8 und Epheser 1) geht es ja gar nicht darum, dass Gott unser ganzes Leben durchgeplant hätte, sondern darum, dass wir dafür „ausersehen“ sind, Kinder Gottes zu sein, Jesus gleich zu sein, gerechtfertigt zu sein, durch nichts von Gott getrennt werden zu können usw.
    Das Beispiel mit dem Depressiven und dem Macher-Typen finde ich gut. In Kombination mit dem Hirten. Denn es hilft zwar möglicherweise nur einem von beiden, wenn man sagt, „Gott hat einen Plan“ (wobei ich nicht mal sicher bin, ob das für einen Depressiven so ne große Hilfe ist…), aber es hilft BEIDEN, wenn man sagt: Das Wichtige ist, dass Gott mit dir ist. Dass er dein Hirte ist. Und zwar auch einer, der bei dir ist, wenn du durch das Tal des Todesschatten gehst. DAS ist das, wonach sich alle Menschen sehnen: Dass es jemanden gibt, der mitgeht, der dabei ist, der einen nicht im Stich lässt, der sich mit einem freut und mit einem weint. Und dass ist letztlich das, was durch das Sterben, durch den Tod trägt. Das, was Erfolg im Leben sinnlos macht und in Krisen (ganz besonders im Sterben) Angst macht, ist doch, dass man das alleine macht/machen muss. Und Gottes Antwort in der ganzen Menschheitsgeschichte ist genau die: Ich bin der, der mit dir ist (JHWH, Immanuel).

  4. Klasse Talk – und mal wieder ein „höllisches Thema“. Hölle ja oder nein, und wenn, dann wie und wie lange, keine Hölle, und was ist dann mit den Verbrechern gegen die Menschlichkeit – das scheint ein Thema zu sein, das viele von uns bewegt.

    Nun ist die Bibel ja – Gott sein Dank – nicht in „einem Stück gegossen“, sondern wir haben es mit Glaubenszeugnissen zu tun, die über viele Jahrhunderte entstanden sind und oft auch die jeweiligen Denkmuster ihrer Zeit in sich aufgenommen haben. Und doch ist die Bibel eben kein gewöhnliches Buch, sondern (irgendwie) „gottgehaucht“, das „Buch der Bücher“…

    Ich kann heute ganz gut die verschiedenen biblischen Aussagen zu diesem Themenkreis nebeneinander stehen lassen – den „Tun – Ergehen – Zusammenhang“ im sog. AT, das teilweise Konterkarieren dieses Ansatzes durch Jesus (u.a. in der Bergpredigt und bes. in der Feldrede), die Theologie des Paulus „nicht durch Taten, sondern durch Vertrauen“ und „alle Menschen sind vor Gott schuldig geworden und werden ohne Verdienst gerecht“, dann wieder die Betonung der Handlungen bei Jesus (Mt 25) oder auch bei Jakobus.

    Ich denke, es gibt ein „Getrenntsein von Gott“ und es gibt ein „Vereintsein mit Gott“. Vielleicht auch noch so etwas dazwischen (1 Kor 3,11-15). Gott ist voller Liebe. Er ist treu und gerecht und barmherzig. Ihm steht ein letztes Urteil über uns Menschen zu, und ich bin froh, dass ich mir nicht seinen Kopf zerbrechen muss. Ich glaube, dass er alle in den Himmel lieben möchte. Einer „Allversöhnungslehre“ aber oder etwa einer „doppelte Prädestination“ stehe ich mehr als skeptisch gegenüber.

    Als Christ sage ich die Gute Nachricht von Jesus weiter. Auch wenn ich selbst wiederholt Dinge nur auf die „harte Tour“ gelernt habe, hat mich letztlich immer die Liebe Gottes gezogen, motiviert, getragen, gehalten. So versuche ich es zu leben, auch im Kontakt mit anderen. „Wir müssen wieder mehr über die Hölle predigen“ – damit kann ich wenig anfangen. Wenn – dann mehr über Jesus, mehr über Gottes Liebe, mehr über Gottes guten Geist. Meine alten Lehrer haben schon gesagt: „Versuch nicht, dem Hund seinen Knochen wegzunehmen, halt‘ ihm lieber ein frisches Stück Fleisch vor die Nase…“ Ich denke, das stimmt.

    Manchmal kann ein ernsthaftes Gespräch, ein Hinweis auf die Konsequenzen, wenn ich so weitermache wie bisher, wichtig und hilfreich sein. Mir geht es machmal so, wenn sich mein Hausarzt Zeit für mich nimmt und mir ins Gewissen redet. Das bringt viel mehr, als wenn meine Frau es versucht. Vor einigen Jahren kam ich in meiner Gemeinde mit einem jungen Dorgenabhängigen ins Gespräch, den seine verzweifelte Mutter mitgebracht hatte. Er war voller Anklage, voller Stolz, voller Abwehr. Ein hartes Gespräch mit dem deutlichen „vor Augen malen“ der Konsequenzen ist für den jungen Mann der Anstoß geworden, eine christliche Therapie zu beginnen. Er ist jetzt seit 5 Jahren drogenfrei und hat gerade eine Berufsausbildung abgeschlossen. Passiert leider viel zu selten…

    Also – Himmel und Hölle, Gerechtigkeit, Vergebung, Rechtfertigung aus Gnade und durch Glaube, Umkehrung der Verhältnisse – über all die Dinge ist oft die Rede in der Bibel. So wichtig die systematische Theologie auch ist – mich motiviert die Liebe Gottes, die Person Jesu, die eschatologische Hoffnung, der Dienst am Nächsten. Die Angst vor der Hölle und die Höllenpredigt – davon durfte ich mich schon lange verabschieden. Und das hat mir und anderen gut getan…

  5. Man kann gleichzeitig an das Weltgericht, den Feuersee als ein Bild für das Gericht und an die letztendliche Rettung aller glauben. Warum sollte das Erbarmen Gottes nach dem Weltgericht für immer an ein Ende kommen? Denn was ist die Rolle des Feuers in der Schrift?

    Ich werde den dritten Teil ins Feuer bringen, und ich werde sie läutern, wie
    man das Silber läutert und prüfen, wie man das Gold prüft. Es wird meinen
    Namen anrufen, und ich werde ihm antworten; ich werde sagen: Es ist
    mein Volk; und es wird sagen: Jehova ist mein Gott (Sach. 13,9).

    HIer kann man einiges davon rauslesen!

  6. Hmm, warum ist mein Kommentar weg?

    Also: Nach einem rabbinischen Sprichwort: Jay, du hast Recht! Aber Gofi du hast auch Recht!
    Es können doch nicht beide Recht haben? Das ist auch wieder richtig..
    Schwierige Kiste, vielleicht spaltet Gott die schlechten Anteile ab?
    Dann begegnen wir im Himmel dem Kunstmaler Adolf Hitler.
    Ob das besser ist? 😉
    Liebe Grüße der Matze

    1. Hast du „La part de l’autre“ gelesen?
      Hab bei Gofis Ausführungen drauf gewartet, dass noch die Aussage kommt „Manche Taten sind für mich wirklich unentschuldbar. Aber dann überlege ich, welches Monster in mir steckt (und aufgrund glücklicher Umstände einfach keine Bühne hat, um sich zu entfalten) und dann werd ich plötzlich vorsichtiger, wenn ich laut nach Vergeltung rufe – denn ich könnte genau dieser Täter selbst auch sein – und was liegt so oft in der Vergangenheit von Tätern? Dass sie Opfer wurden“.

  7. Ich bin ziemlich sicher, dass Hitler in die Hölle gekommen ist, von dort aber fliehen konnte, um dann unter dem Namen David Hilter in einem Imbiss zu arbeiten ……

    1. Er hat seine Seele an den Teufel verkauft, um aus der Hölle zu entkommen. Aber kurz nachdem der Packt geschlossen war, hat der Teufel das, was er für eine Seele gehalten hat, Hitler zurück gegeben und meinte, mit diesem Trash könne er nichts anfangen. Hitler, mit einem üblen Anflug von Galgenhumor meinte, der Teufel solle sich nicht so verarschen lassen. Seit dem spielen beide jeden zweiten Mittwoch im Monat Poker.

  8. Das finde ich einen total wichtigen Punkt. Kein Mensch ist nur Täter und nur Opfer. Und jeder Mensch war mal ein unschuldiger Säugling, der in diese giftige Welt hineingeboren wird. Die Voraussetzungen, um ein „guter“ oder „schlechter“ Mensch zu werden sind auch sehr ungleich verteilt. Es ist von so vielen Umständen und äußeren, wie inneren Faktoren abhängig, wie sich ein Mensch entwickelt und welche Entscheidungen er trifft. Ich glaube, das Gericht ist eine der größten Hoffnungen, die wir haben. Und Gott wird uns mit allen Anteilen sehen, heilen, zurecht bringen und läutern. Und ich glaube im und durch das Gericht, werden Ofper und Täter versöhnt werden und einander und dich selbst vergeben können.
    Ich finde den Worthaus Vortrag zu dem Thema sehr berührend: https://worthaus.org/worthausmedien/gottes-liebe-und-gottes-gericht-wie-passt-das-zusammen-2-7-1/
    Ich kann auch Gofis Punkt sehr gut nachvollziehen. Es ist mit meinem Gottesbild auch nicht vereinbar, dass all die Ungerechtigkeit dieser Welt einfach Vergeben wird und nicht mehr zur Sprache kommt. Das Gott immer auf der Seite der Unterdrückten und derer, die Unrecht erleiden steht, wird besonders bei den Propheten und auch an Jesu Leben sichtbar.

    1. Vielleicht ist Gericht auch ein Vorgang, bei dem die Opfer(anteile) verbunden, geheilt, getröstet werden und die Täter(anteile) „zurechtgebracht“ werden. Und das ausgelöscht (vergeben), was zwischen den beiden steht.
      Vielleicht ist die Aussage „Die Rache ist mein“ auch nicht so zu verstehen, dass Gott an unserer Stelle Rache vollzieht, sondern dass Gott die Rache „kassiert“ hat – auf dem Hintergrund, dass die Vergebung größer ist als die Rache.
      Meine Favoriten-Feuerstelle 😉 ist übrigens aus 1Kor3 (16: Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch.). Da geht es um verschiedene Lehren und denStreit mit den Apollo-AnhängerInnen. Ich finde im Hinblick auf die Streitigkeiten unter Christen hilfreich, dass da steht, dass zwar das verbrennen wird, was keinen bleibenden Wert hat (also im fundamentalistischen Sprech: was eine Irrlehre war), aber das der Mensch selber gerettet wird. Und auch generell, dass die Rettung/Vergebung größer ist als die Fehler, das „Menschelnde“, das, wo wir in eine schräge Richtung gegangen sind.

    2. …und zu der Vergeltungs-Sache: Ich glaube, dass es zur Heilung von Wunden dem Opfer nicht hilft, ob der Täter eine angemessene Strafe bekommt. Das hilft dem Gerechtigkeitsempfinden, der Genugtuung, den Rachegedanken. Und es hilft, dass man als Opfer vielleicht mehr Ruhe über dem bekommt, was einem angetan wurde. Aber Heilung, Wieder-Gut-Machung geschieht (meiner Erfahrung nach) erst dann, wenn sich jemand dem Opfer zuwendet, es tröstet, es begleitet, es verbindet und wenn die Lasten von den Schultern genommen werden (und das geht mE nur über Vergebung).

  9. Kersten Kalischefski

    Hallo,
    hier mal meine Gedanken dazu, wie ich mir das Gericht vorstelle. Ob das Menschen, an denen in unvorstellbarer Weise Menschen schuldig geworden sind, das auch nachvollziehen können, weiß ich nicht . . .
    Ich stelle mir das so vor: ich stehe zusammen mit den Menschen, mit denen ich in irgendeiner Weise zu tun hatte, vor Gott. Und dann kommt alles auf den Tisch: Das Gute, was ich den Menschen getan habe und das Schlechte. Und das Gute, das sie mir getan haben und das Schlechte.
    All das liegt dann vor Jesus. Vor dem Jesus, der unschuldig unglaubliches Leid auf sich genommen hat. Der nun wirklich weiß, wie man vergibt. Vor ihm liegt das nun alles. Und ich glaube, dass es einen Prozess geben wird in dem wir uns alle in die Augen schauen. Wo alles geklärt und zurechtgebracht wird. Das mag und wird dauern. Und sicher wird es kein „Schwamm drüber“ geben. Auch nicht von Gott. Und es wird sicher auch nicht plump von Jesus kommen: „Hey stellt euch nicht so an, schaut auf mich!“ Aber am Ende habe ich die Hoffnung, dass ich versöhnt mit den Anderen in die Ewigkeit geben darf.
    Und: damit Gerechtigkeit (zu diesem Wort gibt es auch einen guten Worthausbeitrag) hergestellt wird ist es ja vielleicht möglich, dass ich denjenigen, an denen ich schuldig geworden bin, irgendwie meine Liebe (hört sich schwulstig an ;.)) zeigen darf.
    Ich habe die Hoffnung, dass mit Hilfe Desjenigen, der unschuldig schrecklich gelitten hat, Versöhnung möglich ist. Und wenn das geschehen ist können wir dann gemeinsam in Ewigkeit feiern. Im Angesicht Jesu (und nur dort) halte ich das tatsächlich für möglich.
    Meist haben wir Evangelikalen ja eher die Vorstellung: ich stehe vor Gott. Und dann geht der Daumen rauf oder runter. Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich da zusammen mit meinen Mitmenschen stehe und Jesus sowohl Anwalt als auch Richter in diesem Gerichtsprozess ist bekommt das eine Dynamik. Das flößt mir Respekt ein! Aber es gibt mir auch die Hoffnung, dass es am Ende tatsächlich gut ausgehen kann.
    Wie ich die ganzen Bibelstellen hiermit übereinbekomme weiß ich noch nicht 😉

    1. Danke für deine Gedanken! Ich finde das eine hilfreiche Vorstellung vom Gericht. Und eine, die mir Ruhe gibt, wenn ich weiß, dass ich vielleicht meinen Tätern in diesem Rahmen wieder begegnen werde und dann alles IN GOTTES GEGENWART auf den Tisch kommt. Und dass Beziehungen zu denen wieder in Ordnung kommen, denen ich bewusst oder unbewusst zur Täterin geworden bin.
      Von meiner evangelikalen Vorstellung, dass alle wiedergeborenen Christen in den Himmel durchgewunken werden, habe ich mich verabschiedet, als mir aufgefallen ist, wie viel Leid diese Christen anderen Menschen (v.a. auch anderen Christen) antun. Dass es da ein „Schwamm drüber, Jesus ist für die Sünden gestorben“ gibt, ohne Rücksicht auf die Opfer, kann und will ich mir nicht vorstellen.

  10. Hallo Leute,

    spannender Talk, danke!

    Dass Ihr Euch so uneins wart bei Gerechtigkeit, hat m.E. – wie Ihr selbst gemerkt habt – mit den ganzen Begriffen zu tun.

    Wir stellen uns Gerechtigkeit immer römisch vor, weil unser Rechtssystem auf dem römischen Recht beruht. Und dann kommt auch noch die ganze (wohl eher germanische) Auffassung von „Ausgleich“ (s. Anselm von Canterburys Sühnetheorie) dazu.

    Ich sehe das inzwischen etwas anders. Zum einen (da könnt Ihr alle Juristen fragen) sind Recht und Gerechtigkeit nicht das gleiche. Ich selbst habe eine Freundin zum Gericht begleitet (mehrere Prozesstage und mit das Schlimmste, was ich erlebt habe…), wo der Totschläger ihres Kindes seinen Prozess bekam. Die Richterin verhängte das Maximum, was in unserem Rechtssystem möglich ist, aber meine Freundin geriet in den Strudel, dass er noch mehr „bezahlen“ müsse… Erst als sie das aus der Hand gab, dass SIE es bestimmen könnte, was er zu „zahlen“ habe, und als sie erkannte, dass es sowieso keinen „Ausgleich“ für ihr Kind gibt, wurde sie wieder ruhiger. Trotzdem hat es auch zur inneren Ruhe bei ihr beigetragen, dass der Täter ein öffentliches (!) verbindliches Urteil bekam.

    Recht und Gerechtigkeit hängen also zusammen, sind aber nicht das gleiche. Und da würde ich gerne mal das „Auge um Auge“ auskramen, das bei Euch so schlecht wegkam. 😉

    Das ist nicht barbarisch, sondern in einer tribal organisierten Gesellschaft ohne zentrale Instanz, die Recht sprechen könnte, eine totale Innovation, weil dadurch der „Ausgleich“ verbindlich festgelegt wurde. In anderen Gesellschaftstypen dieser Art läuft das (zum Teil heute noch) nach dem Schema „Blutrache“/“Blutfehde“, wo sich Familien gegenseitig ausrotten. Im AT war damit Schluss. – Und alles andere ist allein Gottes Angelegenheit. „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ (Und da gehe ich jetzt mal davon aus, dass sich Gott im Laufe des AT fortschreitend offenbart hat, folglich die Idee, dass Gerechtigkeit keine Rache und v.a. allein Gottes Angelegenheit ist, sich erst mit der Zeit durchgesetzt hat.)

    Die ersten „Regenten“ Israels waren Richter, die zugleich als Anwalt derer auftreten sollten, den Unrecht zugefügt wurde. Die Idee, dass sich ALLE an feststehende Regeln zu halten haben und es Konsequenzen gibt, wenn nicht (als es dann später eine Monarchie gab, hatte man sogar eigens ein Gesetz, was der König alles nicht darf!). Und in diesem Zusammenhang finde ich es spannend, dass das hebräische „zedaka“ eben keine römische Justitia ist, sondern sowohl Gerechtigkeit als auch Wohltätigkeit bedeutet. Der Tag des Herrn, der Tag des Gerichts, auf den alle Juden bis heute warten (und wir ja eigentlich auch), ist laut AT ein Tag der Freude, weil Gott Gerechtigkeit herstellen wird. Und Heilung! (Deshalb fassen viele Kranke im NT Jesu Gewand an, denn der Messias bringt unter dem Saum seines Gewandes (unter seinen Flügeln) Heilung.)

    So, jetzt habe ich natürlich auch nicht erklären können, was Gerechtigkeit biblisch GENAU meint. 🙂

    Ich sehe es aber in diesen ganzen Zusammenhängen und mir fällt dazu immer das neutestamentliche „der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft“ ein. Wie Gott das dann genau hinkriegt, ist eben höher als meine Vernunft… (Auch wenn ich das als Intellektuelle ja nicht gerne sage. 😀 ) Deshalb begreife ich das Heilsgeschehen am Kreuz auch nicht wirklich. Es hat aber ganz sicher nicht mit „Ausgleich“ zu tun, sondern damit, dass Gott uns, die wir uns von ihm, d.h. vom Leben abschneiden, wieder einen Weg zu ihm eröffnet.

    Ich hoffe auf die Allversöhnung, aber ich nehme Jesu Warnungen sehr ernst, bin mir darüber letztendlich nicht sicher und glaube langsam, dass das genau der Punkt ist: wir sollen uns nicht „sicher“ sein, weil es eben nicht unsere Angelegenheit ist und nicht in unseren Möglichkeiten steht. Wenn ich an all die Diktatoren, Folterknechte und Kinderschänder dieser Welt denke, geht das eindeutig über meine Kräfte.

    Manchmal (Achtung: persönliche Spekulation) denke ich, dass bereits das Gericht das sein könnte, was manche Konservative als „Hölle“ bezeichnen. Ich stelle mir das so vor, dass wir unser Leben nochmal gezeigt bekommen (was auch etwas mit Würde und Würdigung zu tun haben würde…) und dabei auch die Perspektiven der anderen fühlen, mit denen wir zu tun hatten. Das könnte versöhnlich von einer „höheren Ebene“ aus sein (an Jesu Hand, mal bildlich gesprochen) oder auch ganz krass im Fall eines Massenmörders (der immer meinte, er brauche keine Hand, die ihm hilft, weil er über allem steht). Aber wie gesagt: alles nur meine ganz persönliche Vorstellung.

    Von Höllenpredigten halte ich sowieso nichts, da bin ich mal wieder ganz lutherisch: man soll die Leute mit Gottes Verheißungen locken. Und da Ihr selber Luther noch angesprochen habt, nochwas zu „Prädestination“: Da gehen die Begriffe auch durcheinander zwischen evangelischen Christen verschiedener Prägung.

    Die Sache mit dem „Plan Gottes für mein Leben“ ist typisch evangelikal (hat eventuell was mit Calvin zu tun, aber da bin ich keine Spezialistin). Bei Luther ist der Plan Gottes für Dich lediglich, dass Du an der Stelle, an der Du lebst und arbeitest, zum Großen und Ganzen beitragen sollst. Punkt. Ganz undramatisch. (Und das schließt für heutige Christen natürlich überhaupt nicht aus, dass Deine Stelle sich ändern kann.)

    Und dann meint Prädestination zweitens die Erwählung zum Glauben. Das gibt es „irgendwie“ auch bei Luther, aber eben nur in diesem Sinne, dass Gott den Glauben herstellt, nicht der Mensch (allerding sehr handfest, nicht „spiritualistisch“). Bei Calvin dagegen gibt es eine Vorherbestimmung mit doppeltem Ausgang, d.h. es gibt auch welche, die Gott zur Verdammnis auserwählt hat. Das ist laut Luther biblisch nicht zu belegen, sondern eine reine Spekulation, um Gott in ein philosophisches Gedankensystem einzuordnen, daher lehnt er das ab. Darüber haben sich die beiden ziemlich gefetzt.

    In jedem Fall sollte man „Erwählung“ und „Plan Gottes“ nicht zu schnell zusammenrühren (was Ihr ja auch gar nicht getan habt 🙂 ). Das gibt es in dieser Form bei vielen christlichen Denominationen SO nicht, soweit ich das überblicke (jedenfalls nicht bei Lutheranern oder Katholiken).

    Liebe Grüße
    Ina

    1. P.S.

      Dass Täter auch (oft) Opfer sind, sehe ich theoretisch auch so, aber an dem Gedankenaustausch darüber kann ich mich hier nicht beteiligen. Ich WILL es auch nicht, weil ich immer an den Totschläger des Kindes meiner Freundin denken muss. Wie er noch vor Gericht über eine Stunde darüber geschwafelt hat, was in seinem Leben alles schief ging. Kein Wort über das Kind! Die Presse schrieb damals: „X.Y. jammert vor der Richterin“

      Das soll BITTE Gott regeln. Mir läuft 15 Jahre nach dem Prozess noch die Galle über…

    2. Nur als kurze Ergänzung zu Luther und Calvin, auch wenns vielleicht als spitzfindig abgetan wird:
      Wenn man Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“ liest, dann klingt das nicht so viel anders als Calvin. Nur, dass er manche Dinge nicht weiter denkt (weil biblisch nicht geklärt) oder eben in den Bereich des „verborgenen Gottes“, über den wir nichts wissen können verordnet.
      Was mir neu ist, ist der Gedanke, dass Luther und Calvin sich „gefetzt“ haben. Die beiden sind sich ja nie persönlich begegnet…den Ärger gab es glaube ich erst nach Luthers Tod zwischen seinen Nachfolgern und dem „Calvin-Lager“. Ich kann Luthers Position in der Frage auch mehr abgewinnen als Calvins, aber ich finde es trotzdem wichtig festzuhalten, dass der Gegensatz nicht so groß ist wie gedacht und das gerne gespielte Spiel in dieser Frage (guter Luther vs. böser Calvin) nicht ganz so aufgeht.

  11. Mich lässt seit Tagen die Frage: „Was können wir von den evangelikalen lernen“ nicht los. Auf der einen Seite ist das, was man als evangelikal bezeichnet ja ein sehr breites Spektrum, wo sich kaum eine Pauschalaussage treffen lässt. Ich finde zum Beispiel diese einfachen Antworten von manchen Glaubensgeschwistern auf manche Fragen sehr abstoßend. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es nur Schutzbehauptungen sind, um sich mit einer Thematik nicht tiefer beschäftigen zu müssen und um dabei Herausforderungen zu umgehen. Ich glaube, wer ein Thema mit all seinen Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten durchdenkt, kann vielleicht am Ende auch eine einfache Antwort geben, aber eine, die viel wertvoller ist. Was ich damit sagen möchte ist, dass das durchdiskutieren mancher Themen wichtig und richtig ist, auch wenn es anstrengend ist. Die „Nicht-Evangelikale-Theologie“ kommt ja auch zu ganz konkreten und einfachen Antworten.
    Und dann habe ich auch so meine Zweifel, ob „die Evangelikalen“ unbedingt soviel Einsatzbereiter sind. Viel läuft über Druck und hingebungsvolle Christen gibt es ja genauso bei den Liberalen oder Progressiven. Und da wo Evangelikale diakonisch unterwegs sein wollen ist schnell der Vorwurf im Raum, dass „das Evangelium“ auf der Strecke bleibt. „Sich für Gott einzusetzen“ bedeutet im Evangelikalen Kontext m.E. meistens Lehre vermitteln, evangelisieren, interne Dienste, usw., weniger diakonisch unterwegs zu sein. Als es wirklich mal darauf ankam sich für Gott in unserem Land einzusetzen, ich denke dabei an 1933 -1945 waren es die aus evangelikaler Sicht „liberalen Theologen“, die für ihre Überzeugungen sogar in den Tod gegangen sind. Die Evangelikalen haben sich zu dieser Zeit irgendwie nicht so positiv hervorgetan.

    Lieben Gruß
    Daniel

    1. Wobei sich auch da viel getan hat. Stichwort „Micha-Iniative“ zB.
      Auch dass inzwischen das Thema Homosexualität bis in höchste EKD Kreise diskutiert wird, ist ein entscheidender Schritt.
      Die Kirche hat schließlich auch über 1500 Jahre gebraucht um sich zu öffnen. Da sind die 200 Jahre bei den Evangelikalen ja nix.
      Und im 2. Weltkrieg waren die Evangelikalen durchaus differenzierter. Der Gnadauer Verband hat sich zum Beispiel klar von den Deutschen Christen distanziert. Auch andere Führungspersonen waren in der bekennenden Kirche unterwegs.

      1. Das ist mir schon bewusst, dass „sich was tut“ und dass man manches auch differenziert betrachten muss. Aber mein Punkt ist ja, dass sich dabei nichts zeigt, was so typisch evangelikal ist, dass man es besonders Hervorheben kann / sollte.
        Es gibt schon so typische Merkmale, aber ob die immer so gut sind? Das man sich bewusst für Gott entscheidet ist so ein Merkmal, und das entspricht auch der Lehre Jesu, der sehr stark zur Entscheidung aufgerufen hat. Aber auch dass kann ins negative kippen, wenn die persönliche Entscheidung mehr als elitäres Zugehörigkeitsmerkmal verstanden wird, denn als Antwort auf die Zuwendung Gottes.
        Ich bin da wirklich am suchen, weil ich als freikirchlicher Pastor immer mehr entdecke, das es „bei uns“ nichts gibt, was nicht auch woanders zu finden wäre.

        Grüße
        Daniel

  12. Søren Hundhausen

    Gott als den liebenden – die Liebe selbst – glauben (können) und leben ist für mich inzwischen das wesentliche im Christsein bzw. im Leben. Ihn als den Gerechten zu sehen finde ich nicht besonders hilfreich, weil sich das in der Wahrnehmung beides auch mal heftig widersprechen kann. Vielmehr verstehe ich Gerechtigkeit als Aufgabe, die Gott uns überträgt: Wir sollen andere nicht verurteilen, bei zu treffenden Entscheidungen andere aber ohne Ansehen der Person bedenken bzw. nach gleichem Maßstab. Bei Gott gibt es zum Beispiel die Bedarfsgerechtigkeit, die unserer Werkgerechtigkeit widerspricht (Arbeiter im Weinberg). Gerechtigkeit sehe ich in Bezug auf Gott nicht juristisch.
    Ich stimme Jay voll zu: Verzeihen steht über Gerechtigkeit. „Verzeihen als Einüben in das Wesen Gottes“ das ist so ein genialer Gedanke, das steht ab sofort auch in meinem Goldenen Buch!
    Eure Gedanken zum Thema Prädestination fand ich gut. In einer Notsituation finde ich aber weniger Trost in dem Gedanken, dass Gott mehr weiß als ich oder dass er eine andere Perspektive hat.
    Hilfreich ist für mich seine Zusicherung: Ich bin bei Dir („… der ICH BIN.“), bestenfalls sogar spürbar – vielleicht auch in Form der Schwester/des Bruders, auch ohne Worte.
    Ist der Hirte eigentlich wirklich immer nur der, dem die Schafe hinterherlaufen? Ist es nicht vielleicht so, dass er hinter den Schafen geht und sie im Blick hat, so dass er ein einzelnes bemerkt, dass sich irgendwo verirrt. Dass er Freude daran hat, zu sehen wie sich seine Herde ausbreitet und gutes Futter findet, und manchmal auch vor einer Gefahrenstelle warnt… Gott hat uns doch auf die Erde gestellt und hier zum Leben beauftragt. Warum schauen wir dann immer dahin, von wo noch nie jemand zurückgekommen ist, nur weil so viele unterschiedliche Bilder/Perspektiven davon gemalt/beschrieben wurden?
    Danke für euren ehrlichen Hossa Talk!

  13. Soooooooooo, ich muss die Begriffe, die gefallen sind, mal in eine Ordnung bringen (meine „Ordnung“, über die ich gerne bereit bin zu diskutieren).
    Wir haben … Vergeltung, Ausgleich, Vergebung, Gerechtigkeit, Wiederherstellung, Zugehörigkeit.

    Aber zuerst eine Leitfrage zur Orientierung, bevor ich mit den genannten Begriffen um mich werfe:
    1. Welches Ziel haben WIR (Menschen) vor Augen, wenn Schuld geschehen ist.
    2. Welches Ziel hat GOTT vor Augen, wenn Schuld (zwischen Menschen und damit vielleicht auch gegen IHN selbst, bzw. seine Gerechtigkeit) begangen worden ist?
    3. Und zentral: WAS soll daraufhin wieder hergestellt werden? (Da bewegen wir uns im diesseitigen und/oder im jenseitigen Bereich, je nach Vorstellung auch im Königreich Gottes bzw. Jesu.)
    Zu 1.: Wenn mir etwas angetan wird, gibt es drei Möglichkeiten (oder vielleicht noch mehr?):
    A. Ich erhalte etwas, das mich entschädigt (man denke an klassische Sachschäden);
    B. ich verlange, dass meinem Schuldiger dasselbe Leid ergeht;
    C. ich vergebe demjenigen, der Schuld begangen hat und verlange nicht nach einem Ausgleich des entstandenen Schadens.

    A.: Die erste Variante sorgt zwar für einen offensichtlichen Ausgleich, aber in vielen Fällen ist eine Wiedergutmachung dieser Art gar nicht möglich und noch wichtiger: Sie hebt das Gefälle zwischen mir und meinem Schuldiger NICHT auf. Banales Beispiel: Wenn jemand mein Auto anfährt und der Sachschaden ersetzt wird, bin ich vermutlich trotzdem zu spät zu meiner Verabredung gekommen, zu der ich eigentlich wollte … ZEIT, die durch jede Schädigung verloren geht, ist nicht zu ersetzen und dementsprechend bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu vergeben oder das Gefälle aufrecht zu erhalten.

    B.: Die Variante der Vergeltung ist noch unsinniger. Sie bringt neue Schuld hervor, denn der Ausgleich ist nur vordergründig: Wenn mich jemand schlägt und ich im Gegenzug in gleicher Weise zurückschlage sind wir BEIDE dem anderen gegenüber schuldig geworden. Im Übrigen ist es nicht möglich (oder zu kurz gedacht), jemandem exakt DASSELBE Leid zuzufügen, weil Leid immer von der Ausgangssituation und Umständen abhängt. Für mich ist ein blaues Auge vielleicht weniger tragisch als für meinen, oder im Fall der Vergeltung den „ersten Schuldiger“, weil ich gerade Urlaub habe und nicht am nächsten Arbeitstag schräg angesehen werde. Das Ausmaß meiner Schuld hängt aufgrund der Vielschichtigkeit und Vergangenheit jedes Individuums IMMER mit Umständen zusammen, die ich nicht kenne …
    Wenn ich mich eigentlich „nur“ fahrlässiger Körperverletzung schuldig mache und der Geschädigte aufgrund ungünstiger Voraussetzungen stirbt, haben dann Angehörige das Recht, mich umzubringen? Ist Schuld eine Frage der verübten Handlung oder ist Schuld die gesamte Auswirkung, die darauf (aber nicht allein daraus) folgt? Vergeltung ist ein Konzept, das NIE funktionieren kann. WEDER im Sinne eines exakten Ausgleichs, NOCH im Sinne der Gerechtigkeit (hier verstanden als begleichende Gerechtigkeit).

    C.: Offensichtlich findet hier (im Fall der Vergebung) kein AUSGLEICH statt. Wo ist da die Gerechtigkeit? Wir haben aber gerade festgestellt, dass A und B suboptimale Scheinlösungen sind. Vergeltung und die ausgleichende Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung sind raus.
    Der Fehler ist folgender: Ich habe noch nicht richtig gefragt! Was war denn mit 2. und 3. ???
    Was ist Gottes Perspektive auf unsere Schuld, die ihn vielleicht auch betrifft? Was ist das Ziel?
    Darauf finden wir im NT zwei zentrale Antworten: Vergebung und Gerechtigkeit.
    Diese stehen meiner Meinung nach in keinem Widerspruch, denn: Gerechtigkeit kann bei Gott nur durch Vergebung geübt werden. Jede Form der Vergeltung schafft neue Schuld, ein neues Gefälle zwischen Mensch & Mensch, sowie Mensch & Gott. Ich glaube, dass es Gott möglich wäre, exakt zu vergelten, also im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit jedem genau das Leid beizumessen, dass der jeweiligen Schuld mit allen Nebenbedingungen (also persönlichen Umständen von Opfer und Täter) entspricht.
    Das ist aber nicht die Lösung für das eigentliche Problem. Gewagte These folgt: Das eigentliche Problem ist nicht die Schuld oder das verursachte Leid, sondern das Gefälle! Zwischen Mensch & Mensch, sowie Mensch & Gott.
    Ich gehe davon aus, dass Gott für alle Menschen (und sich selbst inmitten dieser Gemeinschaft) eine Existenz OHNE GEFÄLLE (denn dadurch entstehen Macht und Unfreiheit) vorsieht. Die durch Schuld entstandenen Gefälle werden durch Vergeltung vertieft, weil die Menschen so in gegenseitiger Schuld gebunden werden und nie die Möglichkeit erhalten, sich (geschweige denn Gott) wirklich auf Augenhöhe zu begegnen. Und bei einseitiger (göttlicher) Wiedergutmachung zu Gunsten des Geschädigten bleibt das Gefälle einfach bestehen, weil der Schuldige trotzdem in seiner Schuld gegenüber dem Geschädigten verbleibt, da ja nicht er selbst den Ausgleich erbracht hat. (Darüber hinaus bleibt er vermutlich auch in seiner Schuld gegenüber Gott.)

    Ich wiederhole nochmal 3.: WAS soll daraufhin (also nach begangener Schuld) wieder hergestellt werden? Antwort: Die Ebenbürtigkeit und Freiheit vom Machtgefälle der Schuld, damit sich die Konfliktparteien wieder auf Augenhöhe begegnen können (was wiederum die Grundvoraussetzung für Liebe ist). Und darüber hinaus: Die Nähe zu Gott, denn der Schuldige entfernt sich durch die Schuld automatisch von Gott, weil er die Unfreiheit (durch das hergestellte Machtgefälle) hervorruft und sich somit selbst an dieses Gefälle bindet, also aus der gottgeschenkten Freiheit in die Abhängigkeit begibt.
    (Durch diese Betrachtung kann man auch ein fatales Bild aus der Welt schaffen: Das Bild Gottes, der den Menschen aufgrund der Schuld von sich wegstößt. Wir sollten uns regelmäßig vor Augen führen, dass WIR es sind, die sich von Gott entfernen, wenn wir die Unfreiheit der Freiheit vorziehen. Wenn man sich der gottgewollten Mündigkeit ganz bewusst ist, fällt es leichter, sich Gott zu nähern, weil man registriert, dass er mit offenen und nicht verschränkten Armen vor einem steht.)

    Allgemein ist es, so glaube ich, wichtig zu verstehen, dass Schuld immer Abhängigkeitsverhältnisse hervorruft (die ja sogar über Generationen hinweg bestehen können) und dass eben diese Abhängigkeitsverhältnisse die Distanz zwischen Gott und dem Individuum hervorrufen. „Zur Freiheit hat euch Christus befreit“ heißt im Umkehrschluss, dass Schuld unfrei macht. Der Täter zwingt dem Opfer diese Unfreiheit auf, das Opfer wird in die Unfreiheit des Gefälles gezwungen. Der Täter schafft eine Distanz zu Gott, aber das Opfer ist mit dem Täter und auch mit dessen Distanzierung von Gott im Gefälle verbunden. Der Täter lädt Schuld auf sich, aber von Gott entfernt sind beide, denn beide sind zu einem größeren oder kleineren Teil unfrei geworden!
    Wir merken, dass es Gott also um eben jene ZUGEHÖRIGKEIT zu ihm geht, die durch Schuld bzw. die entstandene Unfreiheit gestört wird.
    Nur Gott kann diese Zugehörigkeit wiederherstellen, indem er seine Form der nicht vergeltenden Gerechtigkeit walten lässt, der einzigen, die das entstandene Gefälle wirklich aus der Welt schafft: Vergebung.
    „Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ heißt aber nicht, dass UNS jetzt die Last der Schuld aufgebürdet wird, indem wir vergeben MÜSSEN. Denn das, was uns Gott mit der Vergebung geschenkt hat, ist die Freiheit, dass uns vergeben wird und dass wir die Vergebung Gott übertragen können, indem wir sagen: „Vergib DU ihnen, denn ICH kann es nicht.“ Vergebung steht nicht nur den Schuldigen zu, denen vergeben wird, sondern auch den Leidenden, die aus eigener Kraft nicht vergeben können. Wir können Gott um Vergebung bitten und darum, dass er an unserer Stelle vergibt, wo es uns nicht möglich ist.

    1. Tolle Gedanken, danke.
      Im Grunde argumentierst Du ja ganz ähnlich wie ich in dem Talk (wenn ich mich da richtig in Erinnerung habe), dass die Wiederherstellung/ der Ausgleich/ die Gerechtigkeit nur durch Vergebung geschehen/ sich ausbreiten kann. Du gehst dann aber noch den Schritt weiter, dass es immer die Vergebung Gottes ist. Also selbst wenn ich meinem Schädiger nicht verzeihen kann, kann ich Gott bitten, demjenigen zu verzeihen.
      Finde ich erst mal ziemlich gut.

      2 Fragen bleiben mir dann noch:

      1. Worin bestünde dann die Hoffnung, dass Gott eines Tages/ am Ende aller Zeiten Gerechtigkeit schafft? Wenn es nicht Ausgleich durch Schädigung (Gericht) des Schädigers ist. Und auch nicht einen Ausgleichsleistung an dem Geschädigten (wie sollte die auch aussehen?). Ist das Konzept Gerechtigkeit damit nicht an sein Ende gekommen? Und alles, was bleibt (und das wäre bei Licht betrachtet ja vielleicht gar nicht so wenig), ist die Aufhebung des Gefälles und der Trennung und der damit verbundenen Unfreiheit in der Vergebung die man sich gegenseitig schenkt?

      2. Ist in den Gedanken, die Du beschrieben hast, überhaupt Platz für ein Stellvertretendes Sühneopfer von Jesus am Kreuz? Ich denke, Nein. Was wäre deiner Meinung nach die „Erlösungsfunktion“ des Kreuzes? Mein Angebot wäre an der Stelle, die Erlösung in der Auferstehung zu verorten (so wie in der Taufe auch: in Christus stirbt der der Gläubige seinem alten Leben und betritt das neue Auferstehungsleben). Aber weshalb ruft Jesus am Kreuz dann: „Es ist vollbracht!“?

      Hat da jemand ein paar Ideen? Mir scheinen die Begriffe Gerechtigkeit/ Vergebung/ Kreuz und Erlösung nicht recht zueinander zu passen…

      LG,
      der Jay

      1. Kersten Kalischefski

        Hallo,

        ich versuche mich mal. Einen Teil der Gedanken gibt es auch in meinem Kommentar aus dem Mai.

        1.: Vielleicht geschieht Gerechtigkeit indem ich die Gelegenheit habe, demjenigen, den ich geschädigt habe, Gutes zu tun und Liebe zu üben.

        2.: Erlösungsfunktion des Kreuzes: im Gericht stehe ich (zumindest stelle ich mir das im Moment so vor) mit meinen Mitmenschen gemeinsam vor Jesus: meinem Richter und meinem Anwalt. Dem Jesus, der alles unschuldig erlitten hat. Wie kann ich da von anderen Wiedergutmachung verlangen?

        Viele Grüße,

        Kersten

      2. Vielen Dank, Rebekka!!
        Jay, zu deinen Fragen:
        1. Vielleicht bekommt man einen Ansatz, wenn man diese Gerechtigkeit als die Zedaka versteht, die immer inkludierend ist, d.h. in die Gemeinschaft, Beziehung hineinnehmen will. Also dass die Hoffnung darin besteht, dass die Gemeinschaft, Beziehungen wiederhergestellt werden?
        2. Wenn man, wie Rebekka das dargestellt hat, die Wiederherstellung/Vergebung in der Aufhebung des Gefälles versteht, könnte das „es ist vollbracht“ darauf hindeuten, dass sich Jesus durch das Kreuz/ den Tod vollständig, bis zum letzten Schritt in die „Niedrigkeit“ hineingegeben hat. Dass also der Wiederherstellungsprozess und die Stellvertretung in seiner Entäußerung und Erniedrigung in das Menschsein bis zu seiner letzten Tiefe hin besteht, damit die Beziehung Mensch-Gott wieder „ausgeglichen“ werden kann. Es findet eine Wechselbewegung statt, ein Wechsel, Sühne. Und die Auferstehung, in die wir durch Jesu Auferstehung mit hineingenommen werden, wäre dann zu verstehen als der Akt, in dem Gott den Menschen wieder mit „hinauf“ nimmt.

        1. Hmmmmm, wo beginne ich? Ich glaube, dass Katja meinen Gedanken am nächsten gekommen ist, besonders in Bezug auf den inkludierenden Gedanken, weil ich davon ausgehe, dass Erlösung vor allem im gegenseitigen Offenbarsein und dem Offenbarsein vor Gott (bzw. der Erkenntnis dessen) besteht: Damit meine ich, dass alle Erlösten (diesmal aufs Jenseits bezogen) „sehen“ (oder in einer intensiveren Sinneswahrnehmung erkennen), wie das Gegenüber wirklich ist … die gesamte Identität ist also mit allen Facetten offenbart, weil nichts mehr „versteckt“ oder verschämt bedeckt, nichts mehr zurückgehalten oder aufgeschoben werden muss. Weil die Erlösten einfach sein können. Damit meine ich keineswegs, dass irgendeine homogene Masse entsteht, in der das Individuum verschwindet, sondern das genaue Gegenteil: Die Persönlichkeit jedes Einzelnen ist so klar und unverfälscht erkennbar, so direkt, umwerfend und eindeutig wie nie zuvor. Da wird nicht mehr reduziert auf Wesentliches oder kategorisiert bis zur Beliebigkeit. Da ist alles trennscharf und eben doch eine Gemeinschaft, weil man endlich Unterschiede nebeneinander stehenlassen kann.

          Ich hoffe aus tiefstem Herzen, allen Menschen (auch denen, die ich heute noch gerne aus meinem Leben radieren würde, sei es derzeitig oder rückwirkend) einmal auf Augenhöhe begegnen zu können, ihre wahre Identität zu erkennen und mir „anzuhören“, warum sie sich mir gegenüber so und nicht anders verhalten haben. Ich möchte die Vergangenheit auch nicht „ungeschehen machen“ und hoffe, dass jeder (mich eingeschlossen) darüber Rechenschaft ablegen muss, was er*sie getan hat. Rechenschaft heißt bei mir, sich schonungslos einzugestehen, was geschehen ist (ich hoffe, dass Gott uns da mit der Erinnerung ein bisschen auf die Sprünge hilft, wenn das meiste längst im Unbewussten vergraben liegt). Daraus muss dann zweifelsfrei die Erkenntnis resultieren, dass die Vergebung (durch Jesus Christus) der einzige Weg aus dem Dilemma menschlicher Verstrickungen ist. Dieses undurchdringbare Wirrwarr mit tausend Knotenpunkten hätte ich schon gerne gelöst und auch gewusst, wie das alles im Zusammenspiel von göttlichem Plan und menschlicher Willensfreiheit entstanden ist … kann sein, dass mir dieses Wissen nicht zusteht, aber ich hätte gerne einen Zugang dazu ~

          Was das Kreuz betrifft, tue ich mich immer noch schwer mit der Differenzierung von Gott & Jesus … eigentlich ziehe ich die Vorstellung vor, dass Gott in der Gestalt Jesu (so schön beschrieben als „Seinsweise“) als trinitarische Einheit gestorben und wiederauferstanden ist, dass er sich selbst in die vollständige Ohnmacht begeben hat, die aus dem Haufen akkumulierter Schuld entsteht, wenn immer mehr Abhängigkeiten (wir haben bisher vom Gefälle gesprochen) auftreten und einen in Ketten legen.

          Dieses Denken meinerseits resultiert vermutlich aus einer Faszination für den Lauf der Geschichte … wenn man den geschichtlichen Faden verfolgt, ist man immer mit der Schuldfrage konfrontiert: Wer hat diesen Krieg verursacht, wer war für jene Fehlkalkulation verantwortlich?
          Irgendwann steht man immer am Abgrund und sieht irgendwo unten in der Schlucht die Moral liegen, weil man sich denkt: Wer zur Hölle soll hier noch Recht sprechen? Diese ganzen Nebenbedingungen von unglücklichen Zufällen, Familienschicksalen und sogar unkalkulierbaren Naturgewalten kann doch kein Mensch überblicken! Ich kann doch niemandem Vorschriften machen angesichts dieser eingeschränkten Perspektive. Kann ich überhaupt irgendeine Moral vertreten?
          Aus diesem Abyss rettet mich eben einzig und allein die Annahme, dass es einen gibt, der ALLE Verstrickungen, ALLE Nebenbedingungen kennt und dementsprechend wirklich beurteilen kann, wer in Wahrheit welche Schuld auf sich geladen hat.
          Und dann hoffe ich eben darauf, die Motive meiner Schuldiger zu erfahren, die Nebenbedingungen ihres Handelns und ich hoffe, alles in meiner Seele Vergrabene mit Gottes Vergebungskraft bergen zu können, um vor denen Rechenschaft abzulegen, denen ich bewusst oder unbewusst geschadet habe. Da muss für jeden ALLES ans Licht kommen, denn die Welt ist nicht nur voller „böswilliger Kreaturen“, die bei klarem Bewusstsein über Leichen gehen, sondern leider auch voller „gut gemeinter Ratschläge“, die schon so Manche*n in Abgründe geführt haben …

      3. Jay, im Talk meinst du, dass du von diesen metaphysischen Hokus-Pokus-Lösungen (du hast dich anders ausgedrückt) nicht hältst, aber ich meine, wenn wirklich Gott am Kreuz stirbt, dann passiert etwas Göttliches, was sich somit epistemologisch gar nicht einfangen lässt. Dann wäre es aber ein Fehler, die Erkenntnislücke mit menschlich nachvollziehbaren Erklärungen auffüllen zu wollen.

        Man würde, bezugnehmend auf das alttestamentliche Opferverständnis, dann nur festhalten können, dass Gott durch das am Kreuz geflossene Blut das Leben reinigt, aber offenlassen müssen, wie er das macht und warum das, was passiert, wirkmächtig ist.

        Oder bezogen auf die Gerechtigkeit: Wenn jemand an mir schuldig wird, dann hat er mir etwas von meinem Leben (Zeit, Energie, Gesundheit, Lebenslust) weggenommen. Wenn wiederum durch einen übernatürlichen Handlungsvollzug am Kreuz dieser Lebensverlust ausgeglichen wird, dann schuldet mir der andere nichts mehr und die Gerechtigkeitsgleichheit ist wiederhergestellt.

        Statt nach dem Warum zu fragen, wäre es dann die seelsorgerische Aufgabe der Theologie, Wege aufzuzeigen wie man sich das, was andere einem weggenommen haben, bei Gott wiederholt.

        1. Hallo Alexander,
          mit deinen Gedanken zum Kreuzestod bzw. der Unergründlichkeit, wie Gerechtigkeit vollzogen wird, kann ich mich identifizieren. Sie sind mir zwar in der Formulierung relativ neu, aber im Prinzip habe ich unbewusst schon länger die Perspektive geteilt, dass das Blut Christi eine Rolle spielt, nicht jedoch im Sinne einer Satisfaktionslehre, sondern als wesentlicher und eben unergründlicher Teil der Sühne, die, wie du sagst, für Gerechtigkeitsgleichheit sorgt. (Ich hoffe, ich habe dich so richtig verstanden?)
          Mal eine weiterführende Frage zu deinem Ratschlag: Worin siehst du Möglichkeiten, sich das abhanden Gekommene bei Gott „wiederzuholen“ ?

          1. Hi Rebecca,
            das ist eine gute Frage und ich habe darauf noch keine gute Antwort. Vorläufig würde ich vielleicht so sagen: Wenn jemand an mir schuldig wird, indem er mir Teile meines Lebens wegnimmt, dann entsteht auf meinem Lebenskonto ein Defizit, das ich dadurch auszugleichen suche, indem ich anderen etwas von ihrem Leben wegnehme. Beispiel: Angenommen, jemand mobbt mich und raubt mir mein Selbstbewusstsein, dann würde ich vielleicht selbst andere bedrängen, um mich ihrer Anerkennung zu bemächtigen. Meine Lebenskonto wäre dann zwar wieder ausgeglichen, aber mit Falschgeld. Um von Gott Leben zu empfangen, wäre es dann nötig, das Defizit offenzulegen.

            Was den Protestanten hierfür m.E. abhanden gekommen ist, sind alltagsetablierte Seelsorge-Stukturen wie z.B. die Beichte bei den Katholiken. Wir denken immer, wir müssen alles direkt mit Gott ausmachen, dabei erteilt Jesus gleich nach seiner Auferstehung den Jüngern die Aufgabe, den Menschen die Vergebung ihrer Schuld und somit auch neues Leben zuzusprechen.

            Wenn mir noch was Bessers einfällt, meld ich mich.

  14. Hallo zusammen, auch zu diesem Talk würde ich gerne noch meinen Senf dazugeben. Ich denke, dass hier sowohl Jay als auch Gofi recht haben, aber beide auch einige Aspekte vernachlässigen, auch ich habe lange gebraucht, um diese zwei Aspekte miteinander harmonisieren zu können. Einige von euch, haben das ein oder andere was ich hier schildere auch schon in ähnlicher Weise beschrieben, nichtsdestotrotz versuche ich es jetzt auch mal.

    Grundsätzlich würde ich erst mal sagen, dass das Kreuz für mich diese Spannung zwischen Gnade und Gerechtigkeit nicht automatisch löst, wenigstens nicht in einem absoluten Sinn, sondern wenn dann in einem potenziellen Sinn. Ich denke sowohl die Position, dass Jesus uns Menschen am Kreuz vergeben hat und wir deshalb vollkommene Gnade erhalten unabhängig davon wie wir leben, als auch die Position, dass Jesus unsere gerechte Strafe getragen hat und wir deshalb gerecht sind enorme theologische und logische Probleme hat auf die ich nicht unbedingt detailliert eingehen will (außer jemand wünscht das, dann würde ich noch mal was gesondert zum Kreuz und Vergebung schreiben). Beide Ansichten verstehen Gottes Gericht im Sinne des römischen Rechts (Justiz – von der römischen Göttin Justitia). Bei diesem Verständnis von Gerechtigkeit geht es immer um die Fragen: „Wer ist schuld“ und „Wer muss bestraft werden“ und wenn wir in diesen Begriffen denken, dass ist es schnell klar, dass Gnade und Gerechtigkeit Widersprüche sind. Dann muss man entweder Gnade vor Recht ergehen lassen, oder aber Gerechtigkeit (Strafe) walten lassen.

    Ein Beispiel aus dem zwischenmenschlichen hilft vielleicht das Problem besser zu verdeutlichen und einen Lösungsansatz zu bieten. Leider hat man im Christentum Vergebung sehr oft mit Versöhnung gleichgesetzt. Das führt zu folgendem Problem: Wenn jemand einem anderen ein Unrecht tut, (z.B. ein Mann schlägt seine Frau) muss das Opfer dem Täter vergeben, damit die Beziehung wiederhergestellt wird. d.h. der Täter begeht eine Verfehlung, aber das Opfer ist für die Wiederherstellung der Beziehung verantwortlich. (z.B. fordert der Pastor die Frau auf dem Mann zu vergeben). Das kann und wird in vielen Fällen dazu führen, dass der Täter erneut gewalttätig wird, und erneut vom Oper erwartet wird die Beziehung wiederherzustellen. Aber Vergebung ist nur ein Teil der Versöhnung. Versöhnung ist für mich dreiteilig. 1. Das Oper vergibt dem Täter (kein Bedürfnis nach Rache, aber das Oper darf nicht ignorieren was der Täter tut); 2. Der Täter versteht was er falsch gemacht hat (er hört zu und versteht wo er das Opfer verletzt hat): 3. Der Täter bereut (wörtlich kehrt um), ändert seinen Charakter und tut die Tat nicht wieder.
    Falls wir eine Beziehung als in Ordnung betrachten, obwohl diese drei Schritte nicht stattgefunden haben gehen wir ein enormes Risiko ein, dass sich die Probleme wiederholen und sogar zuspitzen! Leider wurde im Christentum die Idee der Vergebung in der Hinsicht oft pervertiert und so legte man noch mehr Last auf das schon geschädigte Opfer und ignorierte die zerstörerische Art des Täters und seine Unfähigkeit gesunde Beziehungen zu führen fast vollständig, weil man sich nur auf die Vergebung von Seiten des Opfers konzentrierte, aber auf die Umkehr des Täters zu wenig achtete.

    Ich denke diese Ideen kann man auch wieder auf das Gericht übertragen, um zu verstehen wie Gnade und Gerechtigkeit harmonisieren und sich nicht widersprechen. Wenn man das Gericht nicht im römischen Sinn versteht (als Gerichtssaal) sondern als Arztpraxis versteht löst sich das Problem meiner Meinung nach. Ich sehe das Gericht als etwas durchgängig Positives. Gott ist Richter (also Arzt), er richtet uns (stellt eine Diagnose), und verhängt ein Urteil (eine Behandlung, um die Krankheit zu eliminieren, nicht den Patienten). In einer Arztpraxis stellt man sich nicht die Frage „Wer ist schuld“ oder „Wer muss bestraft werden“, sondern man stellt sich die Frage „wie kann der Mensch geheilt werden“. Der Mensch muss also nicht von einem theoretischen Todesurteil „erlöst“ werden, sondern von einer Krankheit geheilt werden. In diesem Sinne ist der Arzt immer gnädig und gerecht und diese Dinge sind nie im Wiederspruch. Gott ist gnädig, wenn er uns nicht einfach in unserer Krankheit lässt und er ist gleichzeitig auch gerecht, denn er bekämpft die Krankheit und rechtfertigt uns tatsächlich (wiederherstellende Gerechtigkeit), nicht nur theoretisch.

    Hierzu ist es noch interessant festzustellen, dass Johannes in seinem Evangelium ein Konzept entwickelt wo nicht alle ins Gericht kommen (Joh. 5,24.29). Ich habe dazu meine eigenen Vorstellungen (Schafe sind diejenigen, die nicht ins Gericht kommen, wohingegen Böcke ins Gericht kommen, aber beide werden gerettet, nur die einen mit Gericht und die anderen ohne Gericht, das ist auch nicht so schwarz-weiß sondern eher ein mehr oder weniger an Gericht, aber ich hoffe ihr versteht meinen Ansatz). Ich denke grundsätzlich, dass Gott im Gericht für das Leben nach dem Tod (wie auch immer das aussehen mag, ob persönlich oder unpersönlich ist im Hinblick auf das Gericht für mich nicht so wichtig) grundsätzlich ein paar Probleme lösen muss. Erstens müssen die Menschen gelernt haben zu vergeben (Jays Punkt ist da sehr wichtig, es gibt keine letztendliche Gerechtigkeit im Sinn von Rache oder Strafe, und diese Idee müssen wir loslassen), aber ich denke zweitens, dass die Menschen auch einen veränderten Charakter haben müssen, sonst würde im Leben nach dem Tod die selben Probleme vorhanden sein wie auch hier (wenigstens im zwischenmenschlichen). Ich denke Gott kann beide Punkte nicht einfach auf Knopfdruck ändern, sonst würde er unsere Persönlichkeit auslöschen, diese Änderung muss Schrittweise und freiwillig und auf unserer eigenen Erkenntnis basierend stattfinden (wichtig ist festzuhalten dass wir immer Oper und Täter sind und Gott deshalb sowohl daran arbeiten muss das wir vergeben lernen also auch dass unser Charakter wieder hergestellt wird, denn nur so kann echte Versöhnung stattfinden, siehe oben). Dieser Prozess beginnt bei vielen bereits in diesem Leben. Aber wenn wir darüber nachdenken ist dieser Prozess immer schmerzhaft. Jedes Mal wenn wir einsehen das wir einen Fehler begangen haben der uns wirklich leidtut und aufgrund dessen wir uns ändern leiden wir unter unserem Fehler (sehr oft stärker als unter körperlichen Schmerzen), aber dieses Leid führt zu einem besseren Charakter. Genauso leiden wir auch, wenn wir einem anderen Menschen etwas vergeben was wirklich schmerzlich war, aber auch das verbessert unseren Charakter. Da ich eine allgemeine Heilshoffnung habe glaube ich, dass dieser Prozess auch nach dem Tod weitergeführt wird oder bei einigen erst da gestartet wird, das würde ich das Gericht nennen (ich habe einige philosophische Probleme damit, wenn Christen behaupten, dass unser Schicksal bei unserem Tod feststeht). Aber das Gericht ist wie gesagt zur Heilung da, nicht zu unserer Strafe. Je mehr Arbeit wir in diesem Leben schon verrichtet haben, desto weniger müssen wir nach dem Tod nachhohlen, und umgekehrt. In diesem Sinne glaube ich auch an ein Fegefeuer, aber halt nicht zur Strafe, sondern zur Reinigung, und ich denke, dass das Konzept des Fegefeuers in diesen Rahmen sehr biblisch ist (aber man kann sich davon nicht freikaufen etc.). Paulus redet z.B. davon dass unser „Werk“ das wir uns in diesem Leben aufgebaut haben durch Feuer erprobt wird, und wenn wir mit Materialen gebaut haben, die dem Feuer trotzen Lohn haben werden, wenn aber nicht, unser „Werk“ im Feuer vernichtet wird, aber unser Leben trotzdem gerettet werden wird (1. Kor.3,12-15) und Petrus weist darauf hin, dass die Leiden die wir erleiden ein Feuer ist, dass das Gold reinigt (1.Petrus 1,6-7). Ich persönlich denke, dass niemand auch nur einer einzigen Tat, die er begangen hat, entkommen kann, aber nicht in einem strafenden Sinn, sondern in einem wiederherstellenden Sinn. Wir können nur entscheiden ob wir uns unseren Taten vor dem Tod schon stellen und dadurch verändert werden oder aber nach dem Tod, aber unseren Taten müssen wir uns stellen. Das was in unseren Bibeln oft mit Strafe übersetzt wird, kann man viel besser mit dem Begriff „Tatfolgen“ übersetzen (Ein Problem mit den Bibelübersetzungen aus der Vulgata, weil Hieronymus Angst vor Gott verbreiten wollte). Wir werden von Gott nicht für unsere „Sünden“ bestraft, sondern wir werden mit unseren Tatfolgen konfrontiert, um die Lektion daraus zu lernen (z.B. dass der Mensch nach dem Tod mit dem Leid konfrontiert wird, dass er anderen angetan hat und daraus lernt), und nur unter den Umständen glaube ich wäre es auch möglich, dass es eine Allversöhnung gibt. Eine Allversöhnung wo die Taten die wir getan haben einfach irrelevant geworden sind durch die Gnade würde meiner Meinung nach das Problem nicht lösen, auf der anderen Seite wird der Täter aber nicht für die Tat bestraft, aber er muss sehr wohl verändert werden, damit er kein Risiko mehr für andere darstellt. In diesem Sinne würde Gnade darin bestehen, dass der Täter nicht bestraft wird und Gerechtigkeit würde darin bestehen, dass Gott den Täter wiederherstellt. Für das Opfer würde Gnade darin bestehen, dass das Opfer tatsächlich vergibt und keine Rache will, und Gerechtigkeit würde darin bestehen, dass Gott die Konsequenzen der bösen Tat rückgängig macht, und/oder entschädigt. Natürlich kann Gott kein Zusammenleben mit einem Hitler gewähren, der denselben Charakter hat, den er auch schon auf dieser Erde hatte. Gott kann auch nicht Hitlers Charakter magisch verändern, sonst wäre es ja nicht mehr die Persönlichkeit von Hitler, aber Gott kann Hitler im Prozess der Charakterheiligung begleiten, und so jeden aus der „Hölle“ rauslieben. Die Frag ist halt ob uns diese Art von Gerechtigkeit ausreichen würde, oder ob wir auf Strafe bestehen. Ein gutes Beispiel zu dieser Art Gericht und Gerechtigkeit wäre das Buch „Der Weg“ von William Paul Young, ich kann das Buch nur empfehlen, das ganze muss man aber eher metaphorisch und nicht wörtlich sehen.

    Was ist aber, wenn jemand diesen Prozess nicht mitmachen will? Dann stellt sich für mich die Frage, wie stark ist Gottes Liebe. Ist Gottes Liebe stark genug, dass sie den freien Willen des Menschen (in diesem Fall eher Sturheit zu nennen) überwindet und zur Einsicht führen kann, oder nicht. Ich glaube das Gott uns vollkommene Freiheit gibt, und deswegen muss ich die Möglichkeit offen halten, dass es theoretisch möglich ist, dass jemand zu diesem Prozess nein sagt, aber ich habe die Hoffnung, das Gottes Liebe stärker ist und länger anhält, als die „freie Sturheit“ der bösesten Menschen. Deshalb sage ich, dass ich eine allgemeine Heilshoffnung habe. Außerdem glaube ich das Menschen die wir als böse bezeichnen würden eher irregeführt sind und viele Lügen über Gott/die Realität, sich selbst und andere Menschen glauben, aber meiner Meinung nach sind die wenigstens Menschen wirklich absichtlich böse.

    In diesem Sinne würde ich auch Prädestination verstehen. Wir sind alle Vorherbestimmt und berufen für ein Leben mit Gott, nicht nur einige (spätestens nach dem Tod), d.h. wir sind vorherbestimmt in unserem Ziel, aber nicht vorherbestimmt welchen Weg wir zu diesem Ziel einschlagen. Meiner Meinung nach hat Gott keinen Plan für unser Leben, aber er hat ein Ziel für unser Leben, und zwar ein Leben in Liebe, wie wir dahin gelangen ist nicht so wichtig.

    Hoffe die Gedanken waren nachvollziehbar und konnten dem ein oder anderen helfen.

    Liebe Grüße
    Otniel

Schreibe einen Kommentar zu Pastor Uli Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert