#162 Leben zwischen Glauben und Nicht-Glauben-Können

Hat Gott einen Plan, den er gnadenlos durchzieht? Und kann man ihn durch Gebet davon abbringen? Und wie lebt sich als glaubender Mensch eine Beziehung mit einem nichtglaubenden Menschen? Geht das? Und wenn ja, wie? Was ist eigentlich mit denen, die nicht mehr glauben können? Können die sich einfach entscheiden, wieder damit anzufangen? Und was ist von der Mission unter indigenen Völkern zu halten?

All diesen Fragen haben wir uns vor genau einem Jahr bei einem Live Talk in Köln gestellt. Wir haben unser Bestes gegeben. Aber hört selbst.

51 Kommentare zu „#162 Leben zwischen Glauben und Nicht-Glauben-Können“

  1. Den Punkt mit den indigenen Völkern finde ich sauheikel. Hat ja große Wellen geschlagen, als ein unberührter Stamm auf einer Insel in Indien vor zwei Jahren einen zwanzigjährigen Missinar mit einem Pfeil erschoss und die LEiche dann nie geborgen wurde. Aus dem Bauch und dem Herzen heraus finde ich es richtig, dass die nicht wegen Mordes angeklagt wurden. Ein Kennzeichen des Liberlaismus ist andererseits der Uiversalismus (was sich auch hätte anders entwickeln können und nicht in Stein gemeißelt ist, vielleicht sogar falsch). Menschen haben Verantwortung füreinander. Keiner gibt gerne einem Irren die Schlüssel zur MAcht und wo Kinder geopfert werden oder ähnliches hat sicher die Weltgemeinschaft die Verantwortung einzugreifen.
    Grundsätzlich fände ich es schön, wenn die Buddhisten zu uns, die Hindus in die USA und liberal-verantwortbare Christen sonstwohin gehen und sich ihre Geschichten erzählen, sich vermählen und vermehren 😉 Wenn alle Kinder Gottes oder der ERde an einem runden Tisch sitzen.
    Die konservativen Christen jedoch haben gar nichts zu bieten. Sie predigen (oft stillschweigend) den indigenen dass ihre Oma in der Hölle bruzzelt. Die LAusanner Bewegung glaubt, dass Jesus bei seiner Wiederkunft die Heiden (also auch mich) abschlachtet und will diesen Prozess beschleunigen. Muss ich die mögen?
    Ich glaube, Mission sollte keine Einbahnstraße sein. Klar wünsche ich mir eine Aufklärung in großen Teilen der Welt, aber wir können auch so viel von den Stammesvölkern lernen (Zusammenhalt, Geschichten, sexuelle Techniken und LEbensweisen, Musik…) und sie von uns (Nähen und Brunnenbauen, Achtung der Behinderten und KRanken etwa). Das wäre mein Traum

  2. Bei der Frage, ob man sich entscheiden kann zu Glauben, kommt der Gedanke auf, dass Gott uns nicht loslässt, egal was wir tun. Das kam in vielen Folgen schon von Jay als Argument. Was aber, wenn ich Gott eben gern loslassen würde? wenn ich mich nicht traue, „Nichtchrist“ zu werden? Wenn die Angst dann „verloren“ zu sein, einfach riesig ist und der Neid auf Nichtchristen riesig, die diese Angst nicht kennen? Wenn ich gern mal „sündigen“ würde, aber immer noch so eine große Angst habe, weil ich ja weiß, dass es „falsch“ ist? Das allgemeine Dilemma, dass die christliche Vergangenheit und die Sätze, die man eben nie hinterfragen durfte, einen doch mehr prägen, als man will. Wie kommt man da raus? Wie schafft man es, diese Angst hinter sich zu lassen?
    Die Folge über Glaubensvergiftungen in der Kindheit wirft da sehr viele Fragen auf und hat mich beruhigt, dass ich nicht die einzige bin, der das so geht. Aber Wegbeschreibungen, wie ihr das geschafft habt, gab es nicht (oder ich hab es nicht rausgehört). Dazu eine Folge oder „Wegweiser“, denen ihr gefolgt seid, würde ich großartig finden.
    Danke. 🙂

    1. Liebe Hanna,
      danke für Deinen ehrlichen Kommentar. Ich kann Deine Frage und die damit verbundene Angst gut nachvollziehen. So ähnlich ging es mir auch viele Jahre – mit der zusätzlichen Problematik, dass ich ja als Berufschrist auch noch die ganz existentielle Frage hatte, womit ich mein Geld verdienen sollte, sollte ich Atheist werden? So ganz die richtigen Ansprechpartner sind wir aber wahrscheinlich nicht für Deine Frage. Gofi hat, so weit ich weiß, nie mit der Überlegung gehadert, ungläubig zu werden. Und ich habe zwar viel Zeit mit der Frage verbracht und war immer wieder kurz davor, habe das Ganze dann ja aber anders gelöst.

      Einen Talk mit einem „Abgefallenen“, der hierzu eben auch hilfreiche, praktische Tipps gibt, wäre tatsächlich mal spannend… Halt. Hatten wir ja schon. Hör dir hierzu mal unsere beiden Talks mit Freddi Gralle an:
      HT #61 https://hossa-talk.de/61-freddi-entdeckt-den-sex/
      HT #147 https://hossa-talk.de/147-weiblich-ledig-spirituell-suchend/
      Besonders der erste könnte hilfreich für Dich sein.

      In der Hossa-Community gibt es aber vielleicht auch einige, die auf Deine Fragen berufener antworten können, als ich, weil sie durch die Tür gegangen sind, die sich von Dir so schwer öffnen lässt. Andreas Gerhard zB (Andi, hast Du nicht Lust, Hanna etwas aus Deiner Perspektive zu schreiben?)

      Ein paar eigene Gedanken will ich aber vielleicht trotzdem anfügen. Anders als bei mir, scheint für Dich die Frage nach der Existenz Gottes nicht Deine eigentliche Frage zu sein. Du scheinst mehr mit Deinem Leben zu hadern und mit den Zwängen, Dogmen und Ängsten die Deine Glaubensbiographie mit sich gebracht haben. Warum denkst Du, du müsstest Gott loslassen, um zu sündigen? Wenn es Dir schwer fällt Nichtchrist zu werden, warum lebst Du nicht als Christ einfach das aus, was Du gerne tun würdest? Mir ist schon klar, dass man das als guter Christ nicht tut. Aber dann mach es doch als schlechter.

      Warum sind Ganz-oder-gar-nicht für Dich die einzigen möglichen Alternativen? Wahrscheinlich weil sie Dir ein Leben lang als einzige Möglichkeiten gepredigt wurden. Sei ganz Sein oder lass es ganz sein. Mal ganz abgesehen davon, dass so etwas lebensfeidlicher, unrealistischer Quatsch ist, hält Dich das Alles doch genau in der ätzenden Grauzone fest, aus der Du gerne entkommen würdest. Ich sehe für Menschen wie Dich da nicht viele andere Möglichkeiten als eine veränderte Praxis. Wenn Du es nicht hinkriegst, ein sündigender Nichtchrist zu werden, dann fange doch damit an, Dich darin zu üben, ein sündigender Christ zu sein. Also das, was alle anderen Christen sowieso sind.

      Welche Sünden würdest Du denn gerne mal ausprobieren? Ritualmord? Vergewaltigung? Banküberfall? Ich vermute mal, dass das nicht die Sachen sind, die oben auf Deiner To-Do-Liste stehen. Wahrscheinlich geht es um den Themenbereich Sex and Drugs & Rock’n Roll, oder? Da könntest Du doch ganz vorsichtig versuchen, ein paar Erfahrungen zu machen. Die Grenzen dessen, was Du denkst, was ein Christ tut, dehnen. Bzw, dahinter zu kommen, warum das attraktive Sachen für Dich sind.

      Oder geht es um Ambivalenteres? Eine Partnerschaft, die Dich unglücklich macht? Oder bist Du in jemanden verliebt, der oder die vergeben ist? Dann ist es sicher um einiges schwieriger, Dir darüber klar zu werden, wie Du Dich hier verhalten möchtest. Das ist es immer, wenn andere Menschen involviert sind. Aber auch hier gilt, Du wärst nicht die erste Christin, die in dieser Hinsicht sündigt. Ich schreibe das nicht, um Dich zu ermutigen, etwas Falsches zu tun, sondern um Dich dazu zu ermutigen, Schritte auf ein selbst bestimmtes Leben zu zu gehen. Und das kannst Du nicht, wenn Du bloß mit Deinem Leben haderst.

      Was wird passieren, wenn Du ein sündigender Christ wirst? Eine Menge Leute haben darüber einen langsamen Ausstieg aus ihrem Christsein gefunden. Aber den suchst Du ja, wenn ich Dich richtig verstanden habe. Von daher wäre damit doch das Ziel erreicht, dass du Gott endlich loslassen kannst. Im die Grenzen von dem weiten, was man als Christ für möglich hält, entdecken viele, dass ihr Christsein nicht viel anderes als diese Grenzen beinhaltet hat. Sprich, wenn ihnen die Grenzen irgendwann überflüssig werden, wird auch Gott überflüssig. Ich halte das für einen legitimen Weg, um aus einem indoktrinierten Glauben herauszukommen. Desensibilisierung würde man das in der Psychologie vielleicht nennen. Andere finden wiederum heraus, dass ihnen in den Erfahrungen, die sie damit machen, zu sündigen und sich dabei damit auseinanderzusetzen, wie sie gerne leben möchten, dass sie dabei entdecken, dass ihnen ihr Glaube an Gott durchaus wichtig ist. Und das wäre dann doch auch schon mal ein Ergebnis. Denn damit wäre immerhin die Frage beantwortet, wie man es hinkriegen könnte, Gott loszulassen. Anscheinend eben nicht, weil man das dann ja auch gar nicht mehr will. Die Frage, wie man als Gläubiger denn nun leben möchte, stünde damit immer noch aus – aber dafür kann man sich dann ja in einem zweiten Schritt Zeit nehmen.

      Wahrscheinlich wirst Du Deinen Fragen, Zweifeln und Sehnsüchten jedenfalls nicht theoretisch auf die Schliche kommen. Trau Dich was. Dafür ist das Leben da.
      Alternativ oder noch besser additiv könntest Du den ganzen Stress, den Du mit dem Glauben hast, natürlich auch mit einem Therapeuten besprechen. Das ist an solchen Lebensgabelungen eigentlich selten verkehrt.

      Sei gesegnet.
      LG,
      der Jay

      1. Hi Hanna,

        hab Dich nicht vergessen 😉 Hab Dir mit meiner neuen externen Tastatur schon was auf Festplatte geschrieben, doch jetzt kann ich auf die nicht zugreifen. Bis Wochende nächster Woche sollte das behoben sein. Dann gibts was Liebes aufe Ohr’n.

      2. Lieber Jay,
        Danke für diesen Blog, der Freiraum gibt, offen und ehrlich über eigenes religiöses Erleben zu reden. In Gemeinden, der EV Allianz Bremen, ist das kaum möglich, ohne ausgegrenzt oder angefeindet zu werden. Ich habe dieses schädliche manipulierte zur Selbstkritik unfähige Reden und Denken so satt. Gerne würde ich mit euch in Austausch treten. Ich arbeite mit an der Website http://www.jesus-dein-anwalt.de. Dort diskutieren wir, wie sich in schonender Weise (ohne „Bultmania“) das destruktive Potential biblischer Problemstellen entschärfen lässt. Vielleicht ist es euch möglich, mir auch einmal Gelegenheit zu geben, diese Website bei euch vorzustellen. Leider bleiben Menschen auch nach schwerer Schädigung durch religiösem Missbrauch in der Regel sich selbst überlassen. ,Sie tragen die Folgen alleine. Die Verursacher fühlen sich nicht verantwortlich.
        Lieben Gruß Christian Rahn

    2. Liebe Hanna,
      ich verstehe dich sehr gut. Ich arbeite mich seit 15 Jahren aus diesem Dilemma heraus. Anfangs ist es mir passiert, dass ich in Gesprächen mit anderen ganz „mutige“ Sachen gesagt habe, die bisherige Glaubenssätze aus der Kindheit hinterfragten. Abends im Bett, wenn ich allein war, bekam ich regelrechte Panikattacken. Ich erinnere mich an Spaziergänge im Urlaub, wo ich das „Zu mir selbst kommen“ nicht ertragen konnte, weil dieser schreckliche Gott sich einfach nicht aus meinem Bewusstsein drängen ließ. Ich war wirklich verzweifelt. – Was mir geholfen hat: Erst seelsorgerliche Begleitung, Verstehen und dann ABSTAND, ABSTAND, ABSTAND. Durch die Familie habe ich noch Berührung mit dem Religiösen, aber der Rest meines Bekanntenkreises ist „diverser“ geworden, das tut mir gut. Der Gott, der mich tyrannisiert hat, ist endlich aus meinem Leben verschwunden. Ich wünsche dir, dass du das auch erlebst und ich bin sicher, dass das funktioniert. Wir leben in einer sehr säkularen Gesellschaft – da gibt es viele Räume (online und offline) zu entdecken, die ohne Religion auskommen und trotzdem ganz wunderbar sind!

      Jetzt noch meine Frage an Jay: Ich bin froh, das abgeschüttelt zu haben und ich wollte um keinen Preis zurück. Aber da ist etwas in mir, was den Glauben vermisst. Die Gemeinschaft, die gemeinsamen Werte. Und auch mein Verstand weiß: Es ist etwas Gutes, glauben zu können, beten zu können. Aber was, wenn es diese leise Stimme, von der du gesprochen hast, in mir einfach nicht mehr gibt? Ich bin durchaus sehr empfänglich für Kunst, Musik, humanitäre Werte und alles, was in diese Richtung geht. Aber wenn Jesus, Bibel oder Gott drin vorkommt, geht einfach sofort der Rollo runter. OBWOHL ICH ES NICHT WILL! (Keine Ahnung, ob es darauf eine Antwort gibt, aber es würde schon helfen, wenn du es verstehst…)

      Herzliche Grüße, an euch beide, mARi

      1. Liebe mARi,
        ich verstehe saugut, wovon Du sprichst. Was Du beschreibst ist religiöses PTSD (posttraumatische Belastungsstörung). Du bist traumatisiert. Von einem Gott der Dich tyrannisiert hat, wie du schreibst. Dessen Cool Aid Dir eingeflößt wurde. Ich glaube, da ist Abstand halten, tatsächlich mit das Beste, was Du tun kannst. Ich hatte das ähnlich, wahrscheinlich nicht so krass wie du, denn ich konnte mich ja innerkirchlich davon kurieren (aber um die traumatisierenden Kreise habe ich auch einen Riesenbogen gemacht). Allerdings hat es über 10 Jahre gedauert, bis ich die leise Stimme, von der ich gesprochen habe, in mir wieder vernehmen konnte, bis ich einen anderen, neuen, entspannteren Weg gefunden habe, wieder mit Gott umzugehen. Und ich bin heute ja eben auch („nur“) ein christlicher Agnostiker, bzw an guten Tagen, ein agnostischer Christ. PTSD ist kein Zuckerschlecken, das kriegt man idR nicht mal eben so los. Und kein Wunder, dass bei dir der Rollo runtergeht, sobald es irgendwo mit Jesus, Bibel oder Gott anfängt. Wie hältst du es eigentlich bei Hossa Talk aus? Den Themen begegnest Du bei uns doch ständig?

        Und natürlich habe ich keine Antwort. Leben muss gelebt werden. Da gibt es keine Abkürzung.

        Doch, eine Idee vielleicht. Wenn Du schreibst, dass da etwas in dir ist, was den Glauben vermisst, die Gemeinschaft, die gemeinsamen Werte – ist das nicht schon die leise Stimme? Will sagen, ist die Sehnsucht nach Gott nicht vielleicht schon Gott selbst? Wäre das ein Ort mit dem Du experimentieren könntest? Losgelöst vom ganzen christlichen und kirchlichen Gedöns. Von mir aus sogar losgelöst davon, es überhaupt etwas göttlichem zuzuschreiben? Nenne es „das Gute“, „die Liebe“, „das Leben“ oder so. Und wenn es nur dazu führt, ein entspannteres Gefühl zu etwas Spirituellen zu bekommen, wäre das doch schon was, oder?

        Mir hat es geholfen, zu meditieren. Probiere doch mal, dich ein oder mehrmals die Woche ein paar Minuten lang ruhig hinzusetzen und einen Satz wie „die Liebe ist hier“ oder „ich bin geliebt“ beim/ mit dem Atmen zu meditieren. Also immer wenn Du einatmest, zu denken „die Liebe“ und bei Ausatmen „ist hier“. Oder das Gleiche mit „ich bin“ (einatmen) „geliebt“ (ausatmen). Oder mit etwas Ähnlichem, was Dich anspricht. Nicht um irgendwas zu erreichen, sondern um deiner Sehnsucht einen Ort und damit Raum zu geben. Kannste ja mal ausprobieren. Und wenn es nix für Dich ist, lässt Du es wieder sein.

        Ansonsten, leben und lieben so viel man kann. Der Rest zeigt sich.

        LG,
        der Jay

        1. Lieber Jay,

          Vielen Dank für deine Antwort!! 🙂
          Ja, vielleicht hast du Recht, vielleicht IST das tatsächlich die leise Stimme, von der du gesprochen hast… Ich denke mal darüber nach, wie ich dem nachgehen kann. Danke für deine Tipps!
          Ja, von PTBS hat meine damalige Seelsorgerin auch gesprochen… Ich fand es damals übertrieben, aber vielleicht war das eine Fehleinschätzung.
          Hehe, gute Frage, wie ich das mit euch aushalte! 😀 Es gibt schon manchmal Zeiten, wo ich kein Hossa-Talk hören mag/kann, aber im Grunde habt ihr genau das, was ich gern hätte: Ihr denkt aufgeklärt, seid empathische und gebildete Menschen, die sich kritisch mit ihrer religiösen Vergangenheit auseinandersetzen und es trotzdem schaffen, „sich anzuvertrauen“ (wie du es im Talk so schön genannt hast) und die alten Schätze der Religion neu zu entdecken. Und tatsächlich ist euer Sprechen kein Trigger für mich! Ich weiß mittlerweile einfach, dass ihr nicht irgendwann plötzlich den Hammer der Verdammnis auspackt und draufhaut, so wie ich das aus meiner Vergangenheit kenne. Das ist gewachsenes Vertrauen. 🙂
          Trotzdem bleibt immer das Gefühl, an der Glasscheibe zu stehen, zu euch hineinzusehen und doch niemals dort sein zu können, wo ihr seid. Das schmerzt manchmal.
          Aber du hast mir Mut gemacht, dieser Stimme in mir zu folgen – und wer weiß, wo sie mich eines Tages hinführen wird?!

          Danke für eure Arbeit – ihr habt wesentlich dazu beigetragen, meinen Lebensweg zu verstehen und sprachfähig zu werden!

          Herzliche Grüße, mARi

          1. Liebe mARi,
            schön, dass Hossa Dich nicht triggert. 🙂

            Ich habe übrigens ganz vergessen, zu schreiben, dass ich selber nach wie vor durchaus mit den Spätfolgen von religiösem PTSD zu kämpfen habe. Nicht ständig, aber immer mal wieder.

            – Die Frage, ob die Evangelikalen mit ihrer rigorosen Auslegung des Evangeliums nicht doch Recht haben, beschäftigt mich zB regelmäßig. In dem Zusammenhang kommen natürlich auch immer wieder Höllen-Ängste in mir hoch. Aus einer gewissen Sicht hat so eine rigorose Bibelauslegung ja durchaus ihre Plausibilität… Mein Problem ist, dass ich den ganzen grundsätzlichen evangelikalen Blick auf die Bibel nicht nachvollziehen kann. Hier wird ein Buch zu etwas gemacht, was es beim besten Willen nicht ist. Und das evangelikale, geschichtsvergessene, „wir sehen die Dinge so, wie die ersten Christen“ ist einfach nicht überzeugend, wenn man nur ein kleines bisschen Kenntnis von Kirchengeschichte hat. Dazu kommen dann all die furchtbaren Menschenverachtenden Ratenschwänze, die so eine Position nach sich zieht (Autoritarismus, Unterdrückung von Homosexuellen und Frauen, Gewalt in der Erziehung, Körperfeindlichkeit, Endzeitängste uswusf). Ich finde diesen Blick einfach nicht plausibel. Aber es ist klar, sollten die Evangelikalen Recht haben, bin ich fucked. Aber so was von. 🙂 Das Ganze erlebe ich in Form von Ängsten und Zwangsgedanken (ich denke dann dieselben Sachen die ich schon 100 Mal durchgedacht habe – siehe oben – zum 101 Mal durch).

            Ich mache mir dann klar, dass ich ja nicht einfach etwas Glauben kann, um meinen Kopf aus der göttlichen Schlinge zu ziehen. Ich lehne den Evangelikalen Blick ja nicht ab, weil er so toll ist, sondern weil ich ihn unplausibel, inkonsequent und menschenverachtend finde. Und weil er in vielem gerade dem widerspricht, was mich an Jesus in den Evangelien begeistert. Aber wie gesagt, die Angst, die Evangelikalen könnten doch Recht haben, schleicht sich immer wieder von hinten an mich ran. Theologisches PTSD. Meine Standartantwort darauf ist dann: Yep, wenn Gott annähernd so ist, wie Evangelikale behaupten und nichts Besseres zu tun hat, als uns auf unser richtiges Glaubensbekenntnis abzuklopfen, bin ich fucked. Aber bei so vielen unterschiedlichen theologischen Richtungen wie es sie gibt, hieße das dann ja, dass so gut wie jeder fucked sein müsste. Es würde also gar nichts nutzen, Richtung XY zuzustimmen und mich auf den Weg zu machen, ein religiöses Arschloch zu werden. Wenn Gott nicht gütig und barmherzig ist, sind wir alle fucked, egal aus welchem Stall wir kommen. Also gehe ich lieber von Gottes Güte aus (und das ist ja auch das, was das Neue Testament im deutlich höheren Prozentsatz vertritt).

            – Eine andere Form meiner religiösen PTSD äußert sich immer dann, wenn ich Christen begegne, die sich ihrer Sache ganz sicher sind. Und mir das am besten noch mittels ihrer Gottesbegegnungen und erlebten Wundern unter die Nase reiben. Wer Hossa Talk hört, weiß ja, dass ich mich zum Einen mit allem schwer tue, was so tut, als wüsste es genauer als alle anderen Bescheid. Gleichzeitig imponiert es mir auf eine absurde Art und Weise – wahrscheinlich, weil ich gerne auch selbstsicherer wäre. Zum anderen tue ich mich ja auch mit Gottesbegegnungen an und für sich schwer. Ich mache solche religiösen Erfahrungen einfach nicht, oder besitze nicht die Fähigkeit, mein Leben so hinzudeuten, dass hinter jedem Busch ein Rudel Engel auf mich wartet. Scheiße, Ich bin mir ja noch nicht mal sicher, ob es Gott wirklich gibt. Früher habe ich immer gedacht, ich sei falsch. Also dass ich auch so ungehobelt, selbstsicher glauben können und auf Schritt und Tritt Gott begegnen können müsste, wie jene. Das hat mich total gestresst.

            Mit Beidem kann ich inzwischen gut leben. Ich umarme meinen Skeptizismus und meine unspirituelle Ader gleichermaßen. So bin ich und das muss reichen. Ich will mir nichts mehr in die Tasche lügen müssen. Ich kann und will nicht so leben, wie manche es anscheinend für selbstverständlich halten, die anderen das, was sie Wahrheit nennen, unreflektiert und ungefragt um die Ohren hauen. Nope. Not my way.

            Aber wenn ich solchen Christen begegne oder in Veranstaltungen dieser Couleur sitze, kommt in mir trotzdem regelmäßig diese beklemmende Angst hoch, falsch zu sein. Nicht gläubig genug. Nicht geistlich genug. Ich weiß inzwischen, dass da bloß mein religiöses PTSD getriggert wird, aber das macht die Beklemmung nicht weniger unangenehm.

            Das geht mir auch nach 20 Jahren immer mal wieder so. Als sich damals mein Leben und Glauben zu dekonstruieren begann, war das noch wesentlich extremer. Das waren in dieser Hinsicht wirklich harte Jahre. Religiöses Brainwashing legt man nicht mal eben so ab. Vor allem nicht, wenn es aufgrund der eigenen Konstitution und Persönlichkeit auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Aber inzwischen ist an dieser Stelle viel Ruhe, Vertrauen und mich fröhlich in Gott, das Leben und mich selbst hineinfallen lassen zu können, gewachsen. Ob es Gott wirklich gibt, weiß ich nicht (ist mir auch egal). Aber ich vertraue seiner Güte und Freundlichkeit. Das macht das Leben leichter.

            Ich denke, in diesen Erfahrungen liegt auch begründet, warum ich so angeätzt auf jede Form von Exklusivismus reagiere und lieber mit komplett offenen Türen in die Welt meinen Glauben lebe. Ich weiß, wie man sich als halber und ganzer Atheist fühlt oder einfach nur als religiös Geschädigter, wenn man zu spüren kriegt, dass man nicht mehr dazu gehört und die anderen ihren frommen Zirkus einfach weiter machen, als wäre nichts geschehen. So möchte ich nicht leben.

            Das alles nur als Nachtrag, damit du nicht denkst, ich würde bloß über die Vergangenheit reden, wenn ich sage, dass ich weiß, wovon Du sprichst.

            Trotzdem bleibt immer das Gefühl, an der Glasscheibe zu stehen, zu euch hineinzusehen und doch niemals dort sein zu können, wo ihr seid. Das schmerzt manchmal.

            Du brauchst gar nicht zu irgendwem hineinkommen. Es mag sich anfühlen, als sei da eine Scheibe. Aber sie existiert nicht wirklich. Da wo Du bist, darfst Du sein. So wie Du bist. Mit gefühlter Scheibe oder ohne. Wir sind nirgendwo anderes. Gott ist nicht bei uns drinnen. Gott ist mit uns allen. Ich weiß, dass sind Worte, die sich vielleicht nicht für Dich greifen lassen. Aber das macht nichts. Du bist unterwegs, Gott ist mit Dir. Der Rest wird sich weisen.

            LG,
            der Jay

            PS Disclaimer: Wenn ich oben über „die Evangelikalen“ gesprochen habe, meinte ich nicht allgemein alle Evangelikalen und hatte auch keine ganz konkreten Menschen vor Augen. Ich habe „die Evangelikalen“ als Synonym für eine toxische Frömmigkeit benutzt, von der ich mich nur mühsam emanzipieren konnte. Mir ist bewusst, dass es unter Evangelikalen sehr untoxische Gläubige mit wundervollen Frömmigkeiten gibt.

          2. Lieber Jay,
            Oh, wow, danke für deine Offenheit! Das rechne ich dir hoch an.
            Ja, ich kenne das alles genau so. Wobei ich insgesamt zu der frommen Welt mehr Abstand habe als du und den Triggersituationen aus dem Weg gehen kann. Aber ich bin eine Weile jeden Sonntag heulend aus dem Gottesdienst gelaufen, obwohl das zu dem Zeitpunkt eine tolle, nicht-missbräuchliche Gemeinde war. Bis ich irgendwann einen Schlussstrich gezogen habe, weil das Ganze einfach viel zu kraftraubend war. Aber ja, es sind genau diese Themen. Ich denke, bei mir geht der Rollo schon runter, bevor es zur Triggersituation kommen kann.
            Ich kenne das auch, dass man in diesen Argumentations schleifen festhängt. Es ist eben ein geschlossenes System, da kommt man argumentativ nicht gegen an. (Außer man lehnt das ganze System rundheraus ab, so wie du das machst. Das ist der einzige Ausweg.) Das Gemeine ist ja, dass es auch für unsere Situation eine fertige Schublade gibt: Wir haben angefangen zu zweifeln, und wenn man damit einmal anfängt, dann fällt man am Ende vom Glauben ab. Ich weiß, dass mein früherer Bekanntenkreis mich so sieht. Und ich kann mich nicht dagegen wehren. Entweder du spielst nach deren Regeln, oder du bist raus. Es hat gedauert, das zu akzeptieren. Als Jugendliche war ich so streberhaft, so überfromm… Mittlerweile zelebriere ich das „Draußen-sein“. Aber dafür brauchte ich euch – in diesem Sinne fühle ich mich dann doch in guter Gesellschaft mit euch – und nicht „hinter der Scheibe“ ! 🙂

            „Du brauchst gar nicht zu irgendwem hineinkommen. Es mag sich anfühlen, als sei da eine Scheibe. Aber sie existiert nicht wirklich. Da wo Du bist, darfst Du sein. So wie Du bist. Mit gefühlter Scheibe oder ohne. Wir sind nirgendwo anderes. Gott ist nicht bei uns drinnen. Gott ist mit uns allen. Ich weiß, dass sind Worte, die sich vielleicht nicht für Dich greifen lassen. Aber das macht nichts. Du bist unterwegs, Gott ist mit Dir. Der Rest wird sich weisen.“

            Vielen Dank für diese Worte! Das bedeutet mir viel.
            Ich wünsch dir ganz viel Freiheit innendrin!
            Herzliche Grüße, mARi

          3. Liebe mARi, alles was du schreibst könnte von mir stammen. Wahnsinn. Du weißt gar nicht, wieviel mir das bedeutet, so eine „Biographie“ zu lesen. Danke!

        2. Lieber Jay, ich möchte mich hier nur ganz kurz einklinken, weil meine Konzentration gerade nicht für euren ganzen Austausch reicht. Ich bin auch eine Trauma-Überlebende. Meine Sichtweise ist allerdings eine Andere. Ich wurde nicht von Gott traumatisiert, sondern ua von Menschen, die mir ein falsches Gottesbild eingebleut haben. Betroffen bin ich von Entwicklungs(Bindungs-)trauma. Wer kein Urvertrauen entwickeln konnte, Überlebensstrategien wie Überanpassung anwenden musste, dessen Leben ständig von der Bindungssuche geprägt war und ist, der ist natürlich perfekt manipulierbar durch das Bild eines Gottes, um dessen Gunst eben gerungen werden muss, der meine Bindungssuche eben auch nur beantwortet, wenn ich ein bestimmtes Verhalten bediene. … Für mich ist das aber schlicht nicht Gott.
          Gott wird auf meinem Heilungsweg immer mehr zu dem ’sicheren Hafen‘, den mir meine Eltern nicht gegeben haben, dem Hafen in dem Sinne „Ich bin geliebt, einfach weil ich da bin“. Jedes Kind sollte so aufwachsen. Gott sei Dank wurde ich nicht fromm sozialisiert, denn dieses falsche Gottesbild in Verbindung mit Entwicklungstrauma ist pures Gift. In vielen konservativ geprägten Gemeinden werden Kinder eben traumatisiert durch die Lehre, wie Gott zu ihnen steht.

          Das Empfinden, dass Jesus mich anspricht und etwas mit meinem Leben zu tun haben möchte, bekam ich mit 17 auf einer Zeltmission. Dann verbrachte ich einige Jahre in eher konservativen Kreisen und bekam mehr und mehr das Gefühl, dass die Werte, die in den Gemeinden hochgehalten und vermittelt wurden, einfach nicht zu dem passten, was ich von und über Jesus in der Bibel las. …
          Heute weiß ich um mein Trauma, meine Traumabiographie (einschließlich der negativen Erfahrungen in manchen Gemeinden) befinde mich auf einem Heilungsweg (Erkennen meiner Überlebensstrategien, lösen aus toxischen Verbindungen …) und Gott ist dabei. Hilfreich dabei war die Aufstellungsarbeit bei einer christlichen Traumatherapeutin, wo häufig die destruktiven Gemeindestrukturen zum Vorschein kommen, wie gesagt, die Traumatisierung erfahre ich hier von Menschen mit einem entsprechend negativen Gottesbild. Hilfreich für mich war auch die Bestätigung „meines Gefühls“, dass Gott doch ganz anders ist, durch Worthaus, vor allem durch den Vortrag über den älteren Schöpfungsbericht. Ich bin bedürftig, bedürftig geschaffen, auf Verbindung hin, auf Verbindung hin zu Gott und Menschen und Schöpfung. Bedürftig sind mein Körper, meine Seele und mein Geist.
          Heute bin ich Suchende, mich sehr verletzlich Fühlende, auf neuen Wegen sehr unbeholfen vorwärts Tastende, immer wieder in alte Muster Zurückfallende, Gott Anflehende, dass sich doch endlich hinter der nächsten Flussbiegung neue Lebensmöglichkeiten eröffnen mögen.
          Mal ist mir Gott ganz nah, dann wieder ganz fern. Ich halte mich an Erlebnissen fest, die ich mit ihm hatte. Vor einigen Wochen habe ich meinen „inneren geborgenen Ort“ kreiert. Ich betrete meinen inneren Ort über eine Veranda und schaue von dort auf einen kleinen Wald, dahinter Wiesen, auf denen Pferde grasen. Irgendwo dort gibt es einen Spielplatz, auf dem meine „verletzten inneren Kindern“ herumtollen können. Auf der Verande stehen zwei Stühle. Neulich saß Gott, Jesus (?) auf dem einen Stuhl. Ich saß auf dem anderen Stuhl ihm/ihr gegenüber und meine Hände wurden gehalten. Wir sprachen miteinander, heute weiß ich das Thema nicht mehr, dazu müsste ich in meinem Geschreibsel nachschauen. Ich fühlte mich GESEHEN und geborgen. Dieses innere Bild kann ich nun wie ein Foto in mein Bewusstsein holen und schöpfe daraus Kraft.

          Puh, jetzt habe ich doch einen halben Roman geschrieben.
          LG!

          PS. Über Trauma kann man sich gut bei Verena König schlaumachen.

          1. Liebes Rotkehlchen,
            hab vielen Dank für diesen tollen Erfahrungsbericht und fürs Hoffnung machen. Das ist eine super Ergänzung. Davon brauchen wir unbedingt mehr. Ich freue mich sehr für Dich, dass du diesen positiven Weg gefunden hast. Und ja, herauszufinden, woher ein Trauma rührt, Menschen, verkündigte oder eigene Gottesbilder, ist super wichtig. Ich glaube auch nicht, dass Gott selbst tatsächlich traumatisiert, dass ist an manchen Lebenspunkten aber nur schwer auseinander zu halten.

            Danke für die Ermutigung.

            LG,
            der Jay

          2. Hallo Rotkehlchen,
            Vielen Dank für den Tipp, ich habe von verena König jetzt schon viel angehört, da gehen einem echt ganz viele Lichter auf.
            Auch eine gute Adresse für Horer*Innen vom neuesten talk.
            LG Eli

        3. Lieber Jay,
          mir ist viele hier sooo bekannt. Es tut gut zu lesen, dass es auch andere mit den gleichen Schwierigkeiten gibt, aber das Lesen und Hören triggert mich total. Ich weiß nicht, wie ich aus dem Allen rauskomme. Ich will weg vom alten zerstörischeren Gott, von dem trotzdem gesagt wurde, er ist Liebe, zum Gott, der Freiheit. Ich bin ganz intensiv evangelikal sozialisiert worden, Kinderstunde „schwarzes Herz“, mit Liedern wie „Pass auf kleines Auge bis hin kleines Ich werd nicht groß“. Als mein Vater starb als ich neun war, war es Gottes Wille und er jetzt in der goldenen Stadt. Trauer passte da nicht wirklich.
          Das alles hat so Nachwirkung und hat in meinem Leben so viel zerstört, ich versuche mich seit über 20 Jahren davon zu lösen, auch mit Hilfe, aber immer wieder haut es mich total um. So tolle Talks wie euren kann ich auch nur dosiert hören, sonst triggert es mich wieder.
          Ich will anders glauben, aber das Alte hat soviel Macht. Weiß nicht, wie ich mit all dem Alten umgehen kann, es ist soo schwer.
          Danke für euer Arbeit !
          Liebe Grüße,
          Annette

          1. Liebe Annette,
            danke für Deine Zeilen. Und für Deine Offenheit. Es gibt viel mehr Leute, als Du wahrscheinlich denkst, die eine ähnliche Erfahrung wie Du gemacht haben. Das Ganze hinter sich zu lassen, ist oft aber wirklich nicht so einfach. Mich holt das auch nach über 20 Jahren immer wieder ein.

            Der Hossa Talk #118 über Glaubensvergiftung in der Kindheit könnte für Dich interessant sein: https://hossa-talk.de/118-glaubensvergiftung-in-der-kindheit/

            Gerade erst vor ein paar Tagen fragte mich jemand per Mail nach Tipps, wie man solche toxischen Gemeindeerfahrungen und gerade auch die Verletzungen und den damit verbundenen Zorn hinter sich lassen könne. Ich kopiere Dir hier mal meine unbearbeitete Antwort rein. Vielleicht ist ja etwas dabei, was Dir hilft (wenn nicht, ignoriere es einfach).

            Du fragst nach Tipps, um mit der Situation umzugehen. Wie habe ich das gemacht?

            1. Den Staub von den Füßen schütteln und weiterziehen.
            Nach unserem letzten ent-täuschenden Gespräch mit der Gemeindeleitung haben wir das sogar wortwörtlich getan. Als Julia und ich aus der Tür traten, schüttelten wir den Staub von den Füßen, hielten den Mittelfinger noch einmal in Richtung Gebäude und das war es dann – die haben uns dort nie wieder gesehen. So bescheuert Windmühlen als Gegner sind – wenn sie sich in den Köpfen anderer drehen, hat man kaum eine Chance gegen sie. Das zu realisieren kann einen komplett frustrieren, aber es führt kein Weg daran vorbei. Den Kontakt abzubrechen schafft Raum für Neues.

            2. Wunden ansehen, behandeln – und betrauern!
            Es ist richtig, sich klar zu machen, dass man verletzt wurde. Und dass Verletzungen Zeit zum verheilen brauchen. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber Wunden brauchen Zeit zum heilen. Mit hat mal ein Seelsorger gesagt, dass ich wahrscheinlich ungefähr so 2/3 der Zeit brauchen würde, die Erfahrung mit meiner toxischen Gemeinde zu verarbeiten, wie ich Teil derjenigen gewesen bin. Das kam ziemlich genau hin. 5 Jahre habe ich mich damit rumgeschlagen, bis ich das einigermaßen verarbeitet hatte. Im ersten Jahr bin ich noch oft nachts schweißgebadet aufgewacht, innerlich in Diskussionen mit einem der Ältesten verstrickt. Das war schon ganz schön heftig. Vor allem, weil ich kaum glaube, dass irgendeiner von denen jemals nachts Schweißgebadet mit Gedanken an mich aufgewacht ist. Aber das wurde mit der Zeit besser. Sich der eigenen Enttäuschung klar zu werden und sie zu betrauern, ist nicht einfach. Man hat ja nicht nur toxisches verloren sondern auch einiges, was einem lieb und teuer gewesen ist. Betrauere das. Weine darüber. Sprich mit anderen darüber. Dir wurde etwas weggenommen, worauf Du vertraut hast, was Dich auch getragen hat, was Deine Heimat gewesen ist. Diesen Verlust darfst Du nicht nur, den musst Du betrauern. Dafür ist Trauer da, um sich an den Verlust „zu gewöhnen“. Um sich in die neue Lebensrealität einzuüben, einzuleben. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem du deine Enttäuschung auch feiern können wirst. Als Ent-Täuschung. Als Offenlegung einer Täuschung, der du aufgesessen bist. Irgendwann war ich froh darüber, ja, dankbar dafür, die Täuschung dieser Gemeinde losgeworden zu sein. Und da konnte ich sogar den Schmerzen ein bisschen dankbar dafür sein – hätte es nicht so weh getan, wäre ich der Täuschung vielleicht immer noch erlegen.

            3. Mein ist die Rache, spricht der Herr
            Es nutzt nichts. Man muss sich immer wieder klar machen, dass man keine Gerechtigkeit kriegen wird. Das ist leider leichter gesagt, als getan. Der Kopf sieht irgendwann sogar ein Stück weit ein, dass die Hoffnung auf Gerechtigkeit, darauf, dass eine der leitenden Personen zugeben würde, dass man sich euch gegenüber falsch verhalten habe, oder dass gar jemand um Entschuldigung bitten würde, unrealistisch ist – die Emotionen nicht. Und so dreht sich das Gedankenkarussell weiter und weiter, wird seinerseits zur eigenen Windmühle im Kopf. Das kann einen auf Dauer vergiften. Das Recht auf Gerechtigkeit loszulassen, ist eine der schwierigsten Übungen im Leben. Aber man kommt nicht daran vorbei. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, meine Rachefantasien vor Gott auszubreiten. So wie die Psalmisten das tun, meinen Widersachern im Gebet die Pest und den Tod an den Hals wünschen. Ich halte die Psalmen hier für therapeutisch sehr ehrlich und hilfreich. Wir wissen ja, dass Gott solche Gebete nicht erhört, dass Gott selber am Kreuz einen anderen Weg eingeschlagen hat. Glücklicherweise. Denn irgendwann sind wir sicher selber diejenigen, denen andere die Pest an den Hals beten. Aber um den eigenen Zorn loszuwerden, ist es hilfreich, ihn vor Gott rauszulassen. Wenn man davor erschrickt, kann man das Gebet ja so beenden, dass man Gott bittet, die Wünsche des Gebets zu ignorieren 😉 Aber die Rachepsalmen sind hier doch eine gute Vorlage dafür, dass man im Gebet nicht allzu zimperlich mit seinen Rachewünschen umzugehen braucht. Hilfreich finde ich jedenfalls, am Ende zumindest den eigenen Zorn in Gottes Hände zu legen. Und darum zu bitten, irgendwann vergeben zu können. Und vielleicht kann man nach einiger Zeit dann dazu übergehen, Vergebung auszusprechen, selbst wenn sich das noch falsch anfühlt. So lange, bis Vergebung für einen fassbar(er) wird. Auch das hat bei mir recht lange gedauert. Eine Zeitlang habe ich, immer wenn beim Vaterunser „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ kam, mir die Gesichter der Leute vor Augen geführt, auf die ich zornig war. Das Gefühl der Farce, weil man nicht fühlt, was man da sagt, habe ich fröhlich ignoriert, im Gedenken, dass ich ja gerne vergeben möchte, selbst wenn ich es noch nicht kann. Um dann Zuhause wieder ein paar Rachepsalmen zu beten… 😉 Irgendwie so.

            4. Freunde!
            Kaum etwas ist so hilfreich, wie das erfahrene Leid mit anderen zu teilen. Eine Hossa-Regio-Gruppe könnte für so was hilfreich sein. Oder eben gute Freunde.

            LG,
            der Jay

    3. Hi Hanna,

      bin besagter Andi. Habe genau an diesen Fragen lange geknapptert und ein Buch drüber geschrieben. Mein Laptop ist grad kaputt. Hab mir bei nem Kumpel grad deine fragen rausgeschrieben und melde mich sonntag.

      Komm gut durch die woche, dein

      andi

    4. Liebe Hanna, ich finde deinen Kommentar hier ganz ganz mutig. Ich selbst habe eine Geschichte hinter mir, in der ich sehr fromm aufgewachsen bin, und ich kenne alle diese Ängste und Fragen. Nach vielen Jahren der inneren Kämpfe und des Loslösens kann ich Dir aber nur Mut machen: Folge deinem Inneren Drängen. Und hör nicht zu sehr auf die Angst. Ein Glaube, der Angst macht, ist keine Heimat. Heute fühle ich mich so wohl und frei in einem weiten Raum, den ich nicht mehr definieren muss, auch Gott muss ich nicht mehr definieren, weder christlich noch biblisch noch sonst irgendwie. Ich habe mich von theologisch dogmatischen Vorstellungen ziemlich verabschiedet (obwohl ich zwei Jahrzehnte ehrenamtlich viel gepredigt habe) und genieße es, mich in viele unterschiedliche religiöse Denkmodelle hineinversetzen zu können, sie aber immer auch hinterfragen zu dürfen. Ich würde mich heute vielleicht nicht mal mehr als Christen bezeichnen, obwohl ich die biblische Darstellung der Person Jesus in weiten Teilen sehr mag und seine Botschaft sehr wichtig finde (nicht so sehr den damit verbundenen „Kult“ um seine Person). Ich sehe mich heute als Mensch. Mensch unter Menschen. Dadurch fühle ich mich unglaublich frei und doch verbunden und gleichzeitig aufgehoben in einem (göttlichen ?) Sein, aus dem ich (und auch sonst keiner) niemals rausfallen kann. Was mir viel mehr Mühe macht ist die Verurteilung und Ausgrenzung durch manche Christen, auch durch Menschen, mit denen ich viele Jahre befreundet war. Das tut weh, und das ist der einzige Punkt, wo ich dir sagen würde: überlege gut, welchen Weg du weitergehst und wem du dich dabei anvertraust. Es könnte und wird auch schmerzhaft werden.
      Solltest du mal jemanden zum Reden brauchen oder vielleicht sogar eine seelsorgereiche Begleitung in diesem Prozess, ich bin Psychologische Beraterin: http://www.claudiastangl.de

  3. Das was du beschreibst Hanna kenne ich auch sehr gut. Manchmal wünsche ich mir einfach als Nichtchrist geboren zu sein und gar keine Glaubensbiographie zu haben. So viel triggert mich immer noch obwohl ich schon ordentlich dekonstruiert habe und vieles nicht mehr so nah an mich heranlasse. Naja vielleicht hoffen wir auf die Wiedergeburt als Regenwurm 😉
    Euch auf jeden Fall 1000 Dank für eure geniale Arbeit, dass ihr euch die Zeit nehmt für Kommentare und eure Hörer:innen. Ihr seid der Wahnsinn. Wie zwei Dschungelguides die auch mal richtig mit der Machete reinhauen und das Blätterdickicht lichten 😀 Das Beziehungsthema war mega, danke dir Gofi für deine Offenheit und die Einblicke. Nicht nur die Kombi glaubend und nichtglaubend sondern auch glaubender und Hossarchist/Suchender/Zweifelnder birgt viel Frustrationspotential. Ganz liebe Grüße
    Paul

  4. Hallo ,
    Vielen Dank für den Talk.
    Könntet Ihr noch die Predigt „ ich glaube, hilf meinem Unglauben“ verlinken?

    Viele Grüße
    Sabine

  5. Lieber Jay,
    da du momentan offenbar einen seelsorgelichen Lauf hast 😉 (also das nenn ich mal Engagement, was du hier ablieferst!!) – und ja schon Mitleser meines Austauschs mit Daniel warst: Was, wenn das Problem nicht (mehr) in der PTBS liegt, in der Furcht vor dem tyrannischen Gott oder dem Rechthaben der anderen Gläubigen, in dem mangelnden Zugang zu Wundern – sondern in Gott/der Liebe/dem Leben o.ä. selbst? So hat meine Reise aus Evangelikalien begonnen und jetzt stehe ich auch im post-evangelikalen Setting vor demselben Haufen wie am Beginn meiner Dekonstruktion.
    Wenn das Leben, zu dem man sich noch nicht mal selbst entschieden hat, sondern in das man irgendwann ungefragt hineingeboren wurde, einem noch und noch vor die Füße scheißt (während andere à la Wunschkonzert durchs Leben gleiten)? Wenn es einen jedesmal beim Anblick der Welt zerreißt, die man so gerne geliebt und in Frieden sehen möchte und doch die Liebe nicht die Kraft ist, die sich durchsetzt? Wenn der Gott immer der Schwache bleibt, wenn er Herzen NICHT verändert, sondern sie immer härter werden, wenn nichts, was man sieht, einem Anlass zur Hoffnung gibt, dass es irgendwann FINAL doch noch gut wird? Wenn mir das „Liebe zwingt eben nicht, sondern gibt frei und lässt die Wahl“ nur mehr als billige Floskel erscheint, die benutzt wird, damit man nicht daran zerbrechen muss, dass die Liebe nicht stärker ist als alles andere?

    Katja

    1. Liebe Katja,

      seelsorgerlicher Lauf? 😉 Diese Themen sind mir einfach sehr nahe. Da schreibe gerne etwas zu.

      Auch Deine Fragen sind mir sehr präsent. Nachdem meine Tochter 2003 gestorben ist, brauchte ich eine Weile, um die Wucht auch intellektuell zuzulassen. Dafür haben mich solche Fragen dann zwischen ca 2006 und 2012 um so heftiger gequält. Wenn ich immer mal wieder sage, dass ich beinah Atheist geworden wäre, dann hing das vor allem an meiner Verzweiflung über genau die Themen, die Du ansprichst:

      Wenn das Leben, zu dem man sich noch nicht mal selbst entschieden hat, sondern in das man irgendwann ungefragt hineingeboren wurde, einem noch und noch vor die Füße scheißt (während andere à la Wunschkonzert durchs Leben gleiten)? Wenn es einen jedesmal beim Anblick der Welt zerreißt, die man so gerne geliebt und in Frieden sehen möchte und doch die Liebe nicht die Kraft ist, die sich durchsetzt?

      Ich habe darauf keine stimmige Antwort gefunden. Und ich verstehe jeden, der an dieser Stelle das Vertrauen in Gott verliert. Das ist übrigens einer der Hauptgründe, warum ich mich weigere, einfach an Gott zu glauben und mich statt dessen als christlichen Agnostiker bezeichne. Ich finde die Wahrscheinlichkeit, dass sich herausstellen könnte, dass Gott doch bloß die Projektion menschlicher Wünsche gewesen ist, nicht nur im Bereich des Möglichen, sondern durchaus etwas, was uns als böses Erwachen (bzw keinem Erwachen) blühen kann. Will sagen, ich bin an der Stelle nicht überzeugt, dass alles gut wird. Ich hoffe es. Sehr. Aber ich lebe mit der Möglichkeit, dass die Rechnung nicht aufgehen könnte.

      Wie gesagt, ich verstehe, wenn jemand an dieser Stelle das Handtuch wirft. Ich wähle immer wieder den anderen Weg,

      – aus Trotz (Nach dem Motto, wenn es Gott nicht gibt, sollte ihn irgendjemand erfinden. Sollte die Liebe nicht genug Kraft haben, die Welt zu verwandeln, sollte sich irgendwer nicht davon abhalten lassen, das zu ignorieren.)
      – aus Verzweiflung (Ich habe keine Ahnung, wie man mit der Vorstellung leben kann, das Universum sei tatsächlich nicht mehr als ein zufälliger, energetischer Rülpser. Ich will dass es Gott gibt. Selbst wenn es Gott nicht gibt.)
      – aus Hoffnung (ich will mir von der Realität – bzw von dem was sich mir immer wieder als Realität aufdrängt – nicht die Freude am Leben nehmen lassen!).
      – wegen Jesus (Sollte sich herausstellen, dass er sich geirrt hat, bzw dass sich seine Jünger in ihm geirrt haben, weiß ich nicht, an wem ich mich ansonsten hätte orientieren sollen. Wenn Jesus Humbug ist, ist er ziemlich guter Humbug.)

      OK, das sind typische, pragmatische Jay-Lösungen… Aber mehr habe ich an der Stelle nicht.

      Ich glaube es war Eli Wiesel, der folgende Geschichte erzählte, die gut dazu passt. An einem Abend seien die jüdischen Bewohner einer KZ-Baracke zusammengekommen, um darüber zu diskutieren, warum sie in dieser furchtbare Situation steckten. Der Gedanke kam auf, dass Gott an ihrer Misere schuld sein müsse und so stellten sie Gott vor Gericht, um herauszufinden, ob es sich tatsächlich so verhält. Ein Richter wurde bestimmt, Geschworene, ein Ankläger und ein Verteidiger. Das Verfahren wurde eröffnet, die Beweise für und gegen Gott gehört und von allen Seiten abgewogen. Es wurde hitzig und dauerte die ganze Nacht, aber als der Morgen graute, herrschte tatsächlich Einigkeit.
      Der Richter verkündigte daraufhin feierlich das amtliche Urteil: Kein Zweifel, Gott IST schuldig am Leid der Juden.
      Danach schauten sich alle müde und etwas ratlos an.
      „Und was machen wir jetzt?“ fragte einer.
      Jemand zuckte mit den Achseln und sagte: „Das Morgengebet sprechen?“
      Und das taten sie.

      Katja, ich kann den Frust über den „schwachen Gott“ wirklich nachvollziehen. Aber was ist die Alternative? Es ist ja nicht so, dass mit der richtigen Beschwörungsformel oder der richtigen Religion die Liebe sich plötzlich besser durchsetzt. Das Problem bleibt, egal welche Religion man annimmt oder Philosophie man anhängt. Das ist Teil des Lebens. Auch als Atheist müsste man daran verzweifeln. Das jüdische und christliche Gottesbild nehmen diese Diskrepanz immerhin wirklich ernst und lächeln sie weder einfach weg noch lösen sie eskapistisch, sondern arbeiten sich daran ab. Gott selbst arbeitet sich hier daran ab. Auch einer der Gründe, warum ich Christ bleibe. Darüber habe ich mein Jesus-Buch geschrieben. Gott hilflos in der Krippe, Gott an einem Kreuz, Gott im Grab. Gott, der mein Gott mein Gott, warum hast du mich verlassen? ruft und dann gottlos stirbt.

      Ich hätte auch lieber den Power-Gott, von dem die Charismatiker prahlen. Den gibt es aber nicht. Der ist bloß eine eskapistische Täuschung.

      Aber, um zum Schluss wenigstens noch etwas ermutigendes zu sagen 😉 , Auferstehung bedeutet dann doch auch, weit rausgezoomt, dass die Dinge auch ganz weltlich besser werden. Und das stimmt doch, oder etwa nicht? Sklavenhandel ist heute immerhin überall auf der Welt illegal, Frauen sind so gleichberechtigt wie noch zu keiner Zeit in der Geschichte, Gewalt in der Kindererziehung gilt kaum noch als göttliche Anordnung (zumindest im Westen), viele Krankheiten sind behandelbar, in Südafrika gibt es keine Apartheitsregierung mehr, es gibt Demokratie, Sozialversicherung, einen Rechtsstaat usw… Ja, die Schöpfung ächzt und stöhnt nach wie vor, ja, im persönlichen Erleben ist das „mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ manchmal nahezu unerträglich. Eine andere Welt kriegen wir nicht. Und auch keinen anderen Gott.

      Ich finde aber, damit lässt es sich doch arbeiten. Damit lässt sich doch glauben, hoffen, lieben. Und ob jemand glaubt und hofft und liebt macht doch trotz Allem einen Unterschied.

      LG,
      der Jay

      ————————————————————————————-

      Edit
      PS Ich höre gerade mal wieder recht intensiv Leonard Cohen – der setzt sich, wie es Juden gerne tun, quasi in jedem 3. Song mit der Thematik auseinander.

      Hier eine meiner Lieblingspassagen aus „Anthem“:

      Ah, the wars they will be fought again
      The holy dove, she will be caught again
      Bought and sold, and bought again
      The dove is never free

      Ring the bells that still can ring
      Forget your perfect offering
      There is a crack, a crack in everything
      That’s how the light gets in.

      Und hier aus „Treaty“ von seinem letzten Album, vielleicht besonders passend für Dich, Katja:

      I’ve seen you change the water into wine
      I’ve seen you change it back to water, too
      I sit at your table every night
      I try but I just don’t get by with you
      I wish there was a treaty we could sign
      I do not care who takes this bloody hill
      I’m angry and I’m tired all the time

      I wish there was a treaty,
      I wish there was a treaty
      Between your love and mine

      1. Liebe Katja,
        noch ein kleiner Nachtrag zu meinem Post. Hast Du eine Art geistliche Routine?

        Wenn man mich fragt, wieso ich am langen Ende immer noch gläubig bin, trotz der unbefriedigenden Antworten und der Tatsache, dass ich, wenn ich ehrlich bin, die Hälfte der Zeit eher Atheist bin als gläubig. Also, warum ich trotzdem noch gläubig bin und mich Gott anvertraue, selbst dann, wenn meine 4 Punkte von oben mir selber gerade keine Wurst vom Teller ziehen, dann würde ich wahrscheinlich antworten, weil mein morgendliches Gebet und Meditation mich in einer Art erden, auf die ich nicht verzichten kann. Das kommt dem, was man gemeinhin Gotteserfahrung nennt, wahrscheinlich so nahe wie es einem Enneagramm 5er wie mir eben gerade so möglich ist – ist ja auch egal, was es ist. Ich brauche es. Es hilft mir, nicht durchzudrehen und mich ins Größere fallen zu lassen und mich darin aufgehoben zu fühlen.

        Wir sind uns von der rationalen Orientierung ja sehr ähnlich. Hast Du eine regelmäßige geistliche Praxis, die dir hilft, Gott und die Welt für ein paar Minuten am Tag oder pro Woche anders als mit dem Kopf anzuschauen?

        Ich kann da natürlich nur für mich sprechen, aber es macht für mich tatsächlich den Unterschied.

        LG,
        der Jay

      2. Lieber Jay,
        danke für die ausführlichen Antworten. Ich kann das nachvollziehen. Viele von diesen Gedanken hast du ja im Laufe der Talks auch schon beschrieben. Aber irgendwie springt da nichts über, ich weiß nicht… 🙁
        (ich bin heute noch nichtmal begeister von Alexanders Worten – die sicher genauso weise sind wie sonst immer 🙂 – ich möchte eigentlich lieber einen Gott haben, an den ich gerade dann glauben kann, wenn es mir NICHT gut geht)
        Die Songtexte sprechen mir allerdings aus der Seele!!

        Geistliche Routinen… puh, also seit ich mich von meiner Zwangshandlung „Stille Zeit“ gelöst habe, gibt es im geistlichen Bereich bei mir keine Routinen mehr. Und meine hehren Meditiationsroutineziele (sowohl säkular als auch buddhistisch oder mystisch-christlich) wurden bisher immer von meinem irgendwas-is-immer-Alltag torpediert. Die einzige geistliche Routine, wenn man so will, ist für mich das Erleben: Schon wieder Karsamstag! Manchmal kommt davor noch ein Palmsonntag, manchmal bin ich in einer Kar-Dauerschleife. Aber auch mit dem Einzug in Jerusalem vorher endet es immer wieder mit dem Karsamstag. Ich wünsche mir so sehr, dass Maria Magdalena die Tür aufreißt, mich mitzerrt und mir den Auferstandenen zeigt.

        1. Liebe Katja,
          ja, das habe ich schon beinah erwartet. Deshalb hatte ich mich auch nicht im Gespräch zwischen Daniel und Dir an Dich gewandt, weil ich das Gefühl nicht loswurde, dass ich Dir hier nichts „Neues“ oder für Dich hilfreiches bieten können würde. Ich habe da auch nichts weiteres anzubieten, außer mit Dir zu verweilen.

          Im Grunde gibt es doch nur zwei Möglichkeiten:
          – weitermachen wie bisher (an guten Tagen mit dem Funken Hoffnung, dass Gott Maria Magdalena doch noch vorbeischickt)
          – etwas ändern

          Auf die zweite Möglichkeit zielte meine Frage nach einer spirituellen Routine ab. Aber es könnte auch etwas ganz anderes sein. Du könntest den Glauben z.B. tatsächlich einfach sausen lassen (auf Zeit oder für immer) und schauen wie es Dir damit geht. Ich sehe wenig Sinn in einem Gottesglauben, der mehr grämt als hilft.

          Alle Möglichkeiten sind legitim, denke ich. Wobei, wie heißt es so schön, wenn du etwas erleben willst, was Du noch nie erlebt hast, musst Du etwas tun, was Du noch nie getan hast.
          Von daher ermutige ich Dich lieber dazu, etwas zu ändern.

          Wie auch immer, ich verweile mit Dir.

          In der Zwischenzeit ermutige ich Dich, Leonard Cohens letztes Album „You want it darker“ zu hören. Nur wenige Wochen nach dessen erscheinen, ist er verstorben. Es ist sein Vermächtnis. Ein unfassbares Vermächtnis. Ich kenne keine Platte, die das, was Dich zerreibt und zerreißt, tiefer, ernster, poetischer und dunkler ausdrückt. Cohen kommt dabei ohne oberflächliches Gefunzel aus, liefert wenig Licht, dafür aber tiefrote Glut. Der Titelsong „you want it darker“ wird Deine neue Hymne werden. Das verspreche ich Dir. Der Zweite Song, den ich oben zitierte, Tready, ist auch von diesem Album. Ich höre Tready zurzeit in Schleife. Und fasse nicht, wie es möglich ist, solch ein Lied zu schreiben.
          Das Album findest Du z.B. hier: https://open.spotify.com/album/3jeTB3j3QmUs8SPIVleHtU?

          Und wenn wir schon miteinander verweilen, schiebe ich noch ein Gedicht hinterher, das ich heute morgen nach dem Hören von Cohens Tready geschrieben habe:

          GHMNS

          wirst Du mich zerbrechen oder heilen
          weiten oder fanatisieren
          vernichten oder erlösen
          mir Barmherzigkeit schenken oder Recht?

          wirst Du mich erleuchten oder blenden
          mich begraben oder in mir auferstehen?

          viel zu dunkel, viel zu hell
          viel zu allgemein, viel zu persönlich
          verstörend stumm im Lamento
          ohrenbetäubend im Rausch.

          gepriesen und verflucht
          zerronnen und gewonnen.

          Geheimnis.
          heilige Erde.
          der Ort barer Füße

          Sei gesegnet, liebe Katja. Es ist ganz fantastisch, dass es Dich gibt.

          LG,
          der Jay

          1. Danke!
            Für dein Menschsein und die Musik.
            Ich habe den Eindruck, das sind die beiden Dinge, die mich noch irgendwie bei Gott, der Liebe, dem Leben halten: die Freundlichkeit von Menschen und die Musik. Gerade bei der Musik habe ich oft Momente, in denen ich glaube, dass Gott/die Liebe/das Leben mir direkt ins Herz spricht. Manchmal durch Texte, die mich just in diesem Moment genau dort treffen, wo ich gerade bin oder was ich fühle (meine Favoriten: https://www.youtube.com/watch?v=S3Mi0F0hNgo, https://www.youtube.com/watch?v=Pff1p3hNQ9c) oder was ich an „Zuspruch“ brauche (https://www.youtube.com/watch?v=hHBIDbs5UT8, https://www.youtube.com/watch?v=fprqla360Xs) oder einfach Melodien, Klangkombinationen, Instrumente, deren Schönheit mich umhaut und zu Tränen rührt. Als würde ein Soundtrack für mich geschrieben – von jemandem, der weiß, dass ich Filmmusik liebe 🙂 Als würde mich jemand oder etwas nicht lassen wollen, auch wenn ich selbst alle Leitungen gekappt habe.
            Also… ich weiß nicht, ob ich weitermachen kann mit beten oder meditieren – ich werde aber nicht aufhören mit der Musik.

          2. Ach, und nochwas, womit ich nicht aufhören werde: ich werde nicht aufhören, zu lieben, wo und wann immer ich kann.
            Du hast geschrieben: „Es ist ja nicht so, dass mit der richtigen Beschwörungsformel oder der richtigen Religion die Liebe sich plötzlich besser durchsetzt.“
            Liebe kann sich nur durchsetzen, wenn wir lieben.

          3. Aber das ist doch schon mal „a way to go“. Letztlich, so frustrierend sich das in vielen Momenten vielleicht anfühlt, ist es der Weg des Kreuzes.

            Liebe kann sich nur durchsetzen, wenn wir lieben.

            Yep. Einen anderen Weg gibt es nicht.

            LG,
            der Jay

          4. Hi Katja, ich habe mir die Lieder mal angehört und ich denke, im Grunde ist es im Glauben wie mit der Musik und du würdest ziemlich unglücklich mit 3 Akkorden in Dur werden. Ich denke, du brauchst die Schwere, um auf tiefere Lebensebenen absinken zu können und die Dunkelheit, um dich an der Morgenröte zu freuen. Mit einem Glauben, der auf Happy-Clappy-Musik tanzt, wäre dir nicht geholfen. Und passend dazu ist dann auch einer meiner Lieblingsbibelverse: Mache dich auf und werden licht, denn dein Licht kommt! – denn das kann etwas zutiefst Befriedigendes sein, in der Nacht die Fenster aufzumachen und zuzusehen wie sich der Himmel ganz langsam von schwarz in blau verwandelt, obwohl die Sonne noch längst nicht zu sehen ist.

            So, und hier noch ein Lied (ein Kunstwerk) vom famosen Käptn Peng, das Rückschlüsse auf meinen Glauben zulässt, weil ich es wiederum mag, dass das Leben so schön rätselhaft und wandelbar ist, obwohl mich das gleichzeitig frustriert. (Im Albatros finden sich vielleicht aus so manche Ex-Evangelikale wieder).

            https://www.youtube.com/watch?v=apCal7ihvy0&list=RDapCal7ihvy0&start_radio=1

          5. Hi Alexander,
            danke fürs Anhören! Ja, vielleicht hast du Recht… Vielleicht würde ich aber auch glücklich mit einem Dur-Leben und einem Dur-Glauben 😉
            Das Lied, vor allem das Video ist wirklich ein Kunstwerk! Ich mag solche gezeichneten Videos.

            Zwei Songs aus den vergangenen Wochen hab ich noch.
            Den aus meiner Sicht besten Dekonstruktions-Song von Luca Fogale („Unfolding“). In der Infobox beschreibt er selbst kurz den Anlass für den Song, das kam mir bekannt vor…: https://www.youtube.com/watch?v=aGZzJNFr_O4
            Und als eine an einem Fluss Geborene einen Song von Kid Kopphausen, der ein Stück weit mein Wunsch ist und eine Art Motivation – ich hoffe, ihn auch einmal singen zu können (vielleicht bis auf die Sache mit dem Rock ’n‘ Roll 😀 ) : https://www.youtube.com/watch?v=sb8Hvz8bjas

          6. Hi Alexander.
            ich hab nochmal über die Sache mit der Musik nachgedacht. Bei mir ist das so: Ich liebe Jazz, bei Helene Fischer, Roland Kaiser oder irgendwelchen singenden Lederhosen hingegen bekomme ich Brechreiz und Fremdscham. Wenn ich selbst Musik mache, brauche ich immer auch außergewöhnliche Tonkombinationen oder Harmoniefolgen, sonst finde ich es flach und langweilig und es berührt mich überhaupt nicht – oder drückt nicht das aus, was ich ausdrücken will. Genausowenig wie mit Helene und den Lederhosen kann ich aber mit Freejazz anfangen. Wenn irgendwie alles drunter und drüber geht und ich mich gar nicht mehr zurechtfinde im Tongewirr, dann schalte ich in den Fluchtmodus, weil mich das überfordert. Und so wie mit dem Jazz ist das auch mit meinem Leben: ich mag das Besondere, Außergewöhnliche und Tiefe, aber andauernde Strukturlosigkeit und Dissonanzen halte ich nicht aus.

            Zu deinen Überlegungen zum großen und kleinen Glauben und dem Verhältnis von Gottesbegegnung/Gottesbetrachtung und Menschenbegegnung habe ich auch noch ein paar Gedanken im Kopf, muss aber erst sortieren.
            Bis denn.
            Katja

          7. Hi Katja,
            falls du es noch nicht getan hast, solltest du unbedingt „Der Klang“ von Martin Schleske lesen, denn da geht’s um genau das, also um Harmonien und Strukturen und warum es für die Kunst und Lebenskunst so überlebenswichtig ist, sie immer wieder aufzubrechen.

            Mit der Musik ist es ja im Grunde wie beim Hochhausbauen: Hoch hinaus kann man nur, wenn man davor tief genug gegraben hat – und deswegen mag ich auch so Sachen wie Dream Theater, nach zehn Minuten explodiert so ein Stück auf einmal und du findest dich in Höhen wieder, die du nie erreicht hättest, wenn die das nicht 10 Minuten lang vorbereitet hätten.

            Aber diese tiefe Befriedigung kommt nur zustande, wenn es dann einmal juckt und du dich kratzt – wenn es, wie bei vielen Radiosongs ständig juckt, ist das Kratzen ziemlich lästig, weswegen die dann ja auch nie länger als 3 Minuten sind.

            Und so ist das vermutlich auch mit der Gottesbeziehung, wenn Leute mir erzählen, was sie mit Gott erlebt haben, finde ich das meistens ganz großartig, wenn sich ein Wunder ans andere reiht, schnell ziemlich langweilig. Auf der anderen Seite kann ich mir auch Urlaubsberichte nicht länger als 5 Minuten anhören, und wenn ich mir dazu noch Fotos angucken soll, dann mache ich das daumenkinomäßig. Will sagen, wie man glaubt, ist vermutlich Typsache, wobei jeder sein eigenes Verhältnis zwischen Erkenntnis und Erfahrung finden muss.

            Schwierig ist es halt nur, wenn die Wahrheit auf einmal selbst zur Typsache wird und die Pfingstler dem glauben, der am meisten Wunder tut oder die Bibeltreuen dem, der am Bibeltreuesten ist.

          8. Hallo Alexander,
            danke für den Buchtipp. Es kam gestern ins Haus 🙂 Ich bin gespannt drauf, die Fotos finde ich schonmal extrem schön.
            Ich wollte ja noch Gedanken zu dem großen und kleinen Glauben und der Gottesbegegnung in der Menschenbegegnung schreiben:
            – Wahrscheinlich hätte ich gar nicht so sehr das Problem mit dem großen Glauben ohne den kleinen, wenn es nicht in den biblischen Texten über Jesus von Erzählungen über den kleinen Glauben wimmelte (Heilungen, Totenauferweckungen, Fischfänge, Dämonenaustreibungen etc.) und Jesus so Sachen sagt wie: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berg: Heb dich dorthin!, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein“. Dieses Hokuspokus-Ding eben.
            – Ich denke nicht, dass wir unsere Mitmenschen aus dem Blick verlieren würden, wenn Gott sichtbar da wäre. Ich glaube eher, dass die Verbindung untereinander noch enger wird, wenn man gemeinsam in einem Raum/Zustand ist, der ganz voll Liebe und Frieden ist. So wie sich Tausende von Live-Konzert-Besuchern, die sich vorher nicht kannten, durch die Musik und das gemeinsame Fan-Sein auf einmal total verbunden fühlen.

          9. Wahrscheinlich hätte ich gar nicht so sehr das Problem mit dem großen Glauben ohne den kleinen, wenn es nicht in den biblischen Texten über Jesus von Erzählungen über den kleinen Glauben wimmelte (Heilungen, Totenauferweckungen, Fischfänge, Dämonenaustreibungen etc.) und Jesus so Sachen sagt wie: “Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berg: Heb dich dorthin!, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein”. Dieses Hokuspokus-Ding eben.

            Du glaubst gar nicht, wie gut ich das verstehe, Katja. Das war ja mein Problem, dass die Pfingstler und Extremcharismaten eigentlich die eigentlichen „bibeltreuen“ Christen sind. Die nehmen die Fülle an Wundererzählungen im Neuen Testament nämlich so ernst, dass sie es für unplausibel halten, so was würde heute nicht mehr vorkommen. Und nicht nur „vorkommen“, im Sinn von alle Schaltjahre mal, sondern eben in der gleichen Regelmäßigkeit und Normalität, wie sich das bei Jesus und den Aposteln in der Schrift ablesen lässt. Und dann hat Jesus ja auch noch versprochen, dass die, die an ihn glauben, größere Dinge als er selbst tun werden… Der biblische Befund spricht hier ziemlich klar für die pfingstlich-charismatische Lesart. Jedenfalls nicht für Hokuspokus-light.

            Das Problem ergibt sich aus der Praxis. Ich nehme mal an, niemand hätte etwas gegen eine höhere Frequenz in Sachen Gebetserhörungen, oder? Heilungsgebete sprechen und regelmäßig die nächste Woche angerufen werden mit der Nachricht, der Krebs sei weg, der Rollstuhl nicht mehr nötig und der Penis tatsächlich drei Zentimeter länger – das wäre doch Bombe! Aber so läuft es nicht. Auch nicht bei den Supercharismaten. Manche klingen mit ihren Geschichten so, als würden sie das genauso erleben, aber ich fand es in meiner charismatischen Zeit zunehmend frustrierender, solche Geschichten bloß von den großen Bühnen erzählt zu bekommen, ohne die Möglichkeit, sie zu überprüfen. Und mit einem eigenen Leben, in dem nicht mal ein Schatten solcher Geschichten zu sehen war.

            Und das geht ja auch den Pfingstlern/ Charismaten nicht viel anders. Die reden von mehr, als sie tatsächlich haben. Ich war einer von ihnen, ich weiß das. Deren Praxis sieht dem ebenfalls nicht annähernd ähnlich, wie sich das im Neuen Testament liest. Und wenn Du bibeltreu sein willst, wird das zum Problem. Denn irgendwas kann dann ja nicht stimmen.

            Also gibt es genau drei Optionen, um damit klar zu kommen:
            A. Es liegt an Gott (weil Gott keine Wunder mehr tun will, oder weil die Bibel eben doch keine vertrauenswürdige Gebrauchsanweisung für das Leben ist, oder weil es Gott vielleicht gar nicht erst gibt).
            B. Es liegt an der falschen Methode (man betet falsch, oder man hat den Satan über der eigenen Stadt noch nicht genug gebunden, oder man ist noch nicht genug vom Lobpreis Gottes durchdrungen oder, oder, oder – die möglichen Lösungen sind Legion)
            C. Es liegt an uns selbst (die Christenheit bzw. man selber ist zu lau, oder betet nicht genug, oder hat Sünde im Leben, oder glaubt nicht intensiv genug)

            An A. kann es nicht liegen, also konzentriert man sich auf B. oder C.

            Wenn man gerade auf Trip B. ist, besucht man jede Konferenz, der man habhaft wird, macht geistliche Kriegsführung sogar noch bevor man für das Frühstück dankt und hofft irgendwie auf die richtige (geistgeführte) Idee, die endlich den Durchbruch bringe. Das Stresspotential ist nicht gerade gering. Aber es hält einen beschäftigt und die kognitiven Dissonanzen klein. Immerhin gibt es einem eine Erklärung dafür, warum Gott sich (noch) nicht an sein Wort hält. Wenn man erst den Schlüssel findet, DANN… Das DANN wird irgendwann immer unbefriedigender, also geht man zu C. über. Erweckungsgebetsnächte, Heiligungsaufrufe, Seelsorge bei nicht erfolgter Heilung (Könnte es an einer Sünde Deiner Urgroßeltern liegen? Ich sehe da ein Hakenkreuz vor meinem inneren Auge… da ist ein nationalsozialistischer Geist in Deiner Familie… äh, Deine Vorfahren waren im Widerstand? Sind im KZ umgekommen? Ach so, jaja, hm… Dann glaubst DU wahrscheinlich nicht genug…!). Je nachdem, wie intensiv man einsteigt, kann man mit B. und C. im Wechsel oder gleichzeitig Jahrzehnte verbringen. Und vielleicht gewöhnt man sich auch daran, entspannt sich ein bisschen, rationalisiert, lebt, glaubt, macht Lobpreis und geht auf zwei, drei Konferenzen weniger. Gott wird das Geheimnis irgendwann lüften, sagt man sich – und vielleicht kommt die Erweckung ja doch noch und dann werden sich die Zweifel erübrigen…

            Andere können ihre kognitiven Dissonanzen irgendwann nicht mehr so gut klein-reden oder -beten. Denen bleibt dann nur noch A.

            A.1 Ein Teil davon wendet sich von Gott ab. Agnostizismus oder gar Atheismus als Antwort auf die Enttäuschung über die Unverfügbarkeit Gottes. Oder als Antwort auf das eigene Unvermögen sich fürderhin wund zu beten. Oder als Antwort auf die Irritation, dass mit der Bibel anscheinend nicht in der Art zu rechnen ist, wie es einem als Kind beigebracht wurde.

            A.2 Ein anderer Teil erklärt, dass man die Bibel falsch verstanden hätte. Damals habe Gott auf wundersame Weise durch reichliche Erweise seiner Göttlichkeit gewirkt, aber seit das Wort empfangen sei, liege ihm mehr daran, die Gläubigen in heiligem Erstaunen jene Wundergeschichten studieren zu sehen, als sie in gleicher Weise heimzusuchen. Zeit zum Abwischen aller Tränen sei in der Ewigkeit genug. Bis dahin, Augen zu und durch, Bruder. Und nicht vergessen: Danken schützt vor Wanken! In Ewigkeit, Amen. – So kann man sich kognitive Dissonanzen auch vom Leib halten. Das Problem ist natürlich, dass sich so eine Bibelhermeneutik aus der Bibel selber bloß mit Ächzen, Stöhnen und zugekniffenen Augen ableiten lässt. Das Bedürfnis, Gottes Wort zu retten, ist so groß, dass man es zum Geschichtsbuch degradiert. Zumindest wenn es um göttliche Wunder geht. In Sachen Bumsen ist die Schrift natürlich topaktuell. Keine Frage.

            A.3 Und dann gibt es noch den Teil, der weder Gott loswerden möchte, noch so tun will, als würde die Bibel nicht sagen, was Pfingstler und Charismaten vollmundig behaupten. Der Ausweg scheint hier zu sein, anders an die Bibel heranzutreten. Sie weder als simple Gebrauchsanweisung noch als reines Geschichtsbuch zu lesen. In der Folge dekonstruieren sich Gottesbilder und Bibelverständnisse, füllen sich mit Allerlei aus der historisch-kritischen Forschung, Psychologie, theologischen Tradition, soziologischen und politischen Theorie und der einen oder anderen persönlichen Eingebung. Mal werden die wundersamen Handlungen Gottes als Bilder gedeutet, mal als legendenhafte Darstellungen und manchmal werden sie schlicht und ergreifend ignoriert, um den Fokus auf Anderes zu legen.

            Ich selber schwanke zwischen A.1 und A.3 hin und her. Da mir A.1 aber in seiner Konsequenz zu trostlos erscheint, halte ich mich im Großen und Ganzen doch mehr bei A.3 auf. Allerdings – ich gebe es zu – kann der alte charismatische Adam anscheinend schwimmen. Der taucht immer mal wieder prustend auf, krächzt sein Hallelojah und winkt mir anschließend melancholisch zu. Anscheinend ist er nicht recht bereit, sich in Symbolen und Legenden komplett aufzulösen. Und irgendwie finde ich das gar nicht so übel. Fast sympathisch. Mit so einem lädierten Charismatiker lässt es sich ja vielleicht auskommen. Und so lange er nicht wieder seinen triumphalistischen Schwachsinn herumposaunt, kann er meinetwegen sogar den Freischwimmer machen. Soll er doch. Kann dabei ja in Zungen singen. Ich mein, vielleicht hat er ja gar nicht komplett geirrt. Vielleicht ist es wie bei allen Dingen Gottes und des Lebens, dass man Genaues nicht genau weiß, aber doch erstaunlich mehr als einem bewusst ist. Vielleicht kann man ja von viel mehr lernen als von weniger. Und vielleicht ist die vermaledeite Unverfügbarkeit Gottes – gelobt und gepriesen sei sie, bespuckt und drauf geschissen – das Einzige, womit man sicher rechnen kann auf dieser wundersamen Reise mit dem Raumschiff Erde. Vielleicht ist das Problem gar nicht der biblische Text sondern das Bedürfnis ihn in die Tasche zu stecken.

            Ja, ich könnte auch besser mit einem Gott leben, die in den Heiligen Schriften nicht so täte, als gehöre das Wunder-Business zum Leben der Gläubigen wie die Melone zu Charlie Chaplin. Als sei ihre mütterliche, übernatürliche Umarmung genauso sicher wie die Umarmung leiblicher Eltern. Es fiele mir leichter, an einen Gott irgendwo da draußen zu glauben, der den Mund nicht ganz so voll genommen hätte. Andererseits ist es müßig, sich ständig darüber zu definieren, was man lieber hätte. Die Dinge sind wie sie sind. Gott ist die Liebe. Nicht verfügbar aber immerhin. Alle Ehre, Schweiß, Tränen, Spucke und Scheiße der Unverfügbaren Liebe Gottes. Gelobt und gepriesen sei sie, verflucht und empfangen. So wie es gerade eben geht.
            Amen.

            LG,
            der Jay

          10. Na, das war mal ne Predigt, Bruder! 😉
            Amen.

            Also in mir ist trotz allem Ringen und Wünschen und Enttäuschtwerden manchmal noch ein leises D.
            Nämlich, dass das, wie Jesus manchmal sagte, alles „Zeichen“ sind. Etwas, was auf Gott oder Jesu Göttlichkeit verweist, was durchscheint aus der göttlichen Sphäre sozusagen. Aber dass es nicht das Eigentliche ist. Vielleicht hat er auch deshalb Geheilten verboten, über das Wunder zu sprechen.
            Und ich habe vor einiger Zeit Frieden gemacht mit den Formulierungen „Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun“. Wenn ich den Namen Jesu als Programm verstehe, also als Immanuel oder Joshua, „Gott mit uns“ und „Gott rettet“, dann wird uns Gott alles geben, was wir im Rahmen dieses Programms bitten – und dazu gehört eben nicht unbedingt ein Parkplatz, schönes Wetter zur Geburtstagsparty oder zwei gleich lange Beine.

            Und dann gibt es wieder die Momente, in denen ich gegen diese Texte anrenne und frustriert die Liebe anschreie darüber, wie sehr ich ihr Nichtstun hasse.

          11. @Jay: Das hat man selten, dass jemand sich so lustig und differenziert auskotzt, es war mir ein Fest, dir dabei zuzusehen, und will das auch gar nicht wegwischen, das soll ruhig mal ein wenig zum Himmel stinken. 🙂

            Dass bei Wundern so viel gefaked wird, wundert mich aber gar nicht, denn Jesus sagt ja auch Sachen wie „Verkauf alles, was du hast und folge mir nach!“ Wenn es die Nachfolger Christi also schon mit ihrem Bankkonto nicht so genau nehmen, dann werden sie vermutlich auch bei Wundern nicht so genau hinsehen. Will sagen: Wenn Jesus wirklich Gott war, dann ist es nur natürlich, wenn göttlicher Anspruch und menschliche Wirklichkeit weit auseinander klaffen. Wenn man sich da nichts vormacht, ist man am Ende weniger frustriert – und doch glaube ich daran, dass es manchmal ein Matching gibt und Menschen, vielleicht nur wenige, vielleicht nur für einen kurzen Moment, in diesem göttlichen Willen aufgehen.

            Man könnte natürlich sagen, vielleicht hätte Jesus besser geschwiegen, dann wären wir weniger frustriert, aber vielleicht ist es so als würde man besoffen Darts spielen – wenn auch niemand das Bull`s Eye trifft, dann ist es trotzdem gut, dass man es treffen soll und jemand es vorgemacht hat, damit man sich daran orientieren und sich dem wenigstens annähern kann.

            Zudem habe ich mir beim Spazierengehen gerade überlegt, dass es mich vermutlich gar nicht so beeindrucken würde, wenn jemand vor meinen Augen Wasser in Wein verwandelt. Denn dann wäre ja nur Fakt, dass Wasser jetzt Wein ist, aber über Gott wäre noch nichts ausgesagt. Wenn ich dagegen halte, dass ich jetzt bin und nicht war – das Nichts war und jetzt ist – dann ist das für mich das weitaus größere Wunder, bzw. wenn es mir möglich ist, dafür eine Erklärung zu finden, dann auf jeden Fall auch für den wunderlichen Wein. Keine Ahnung, ob der Gedanke deutlich geworden ist, aber wenn ich mein jetziges Ich mit meinem Kind-Ich vergleiche, dann stelle ich mit Erschrecken fest, dass ich aufgehört habe, mich über mich selbst zu wundern, vielleicht sollte ich damit wieder anfangen.

            @Katja: I feel you, too! Mit geht es am Ehesten so mit dem Versprechen, dass er und der Vater in uns Wohnung nehmen werden, das hört sich so gewaltig und lebendig an, nach so viel mehr als einem guten Gefühl, dass man sich schon fragt, ob er da nicht etwas zu viel versprochen hat. Oder die Sache mit Pfingsten: Dann wird Gott tatsächlich Mensch und steht von den Toten auf – und am Ende ist er dann doch wieder weg. Ich weiß natürlich auch, dass ich nur die eine, menschliche, sichtbare, endliche Seite der Medaille sehe, aber trotzdem, irgendwie nervt das.

            Das Bild mit den Konzert und der Musik, die uns verbindet, finde ich gut, das klingt fast danach, als hättest du den Klang schon gelesen. Super, dass du dir das gekauft hast, ich gehe jede Wette ein, dass du begeistert sein wirst!

        2. Das ist ja wohl ne Frechheit! 😊
          Aber kann ich nachvollziehen und geht mir in Vielem genauso, ich frage mich nur gerade, ob es auch daran liegt, dass wir sehr individuell von Gott denken und uns viele Enttäuschungen erspart bleiben würden, wenn wir weniger exklusiv von ihm denken würden. Zum Beispiel Gebet. Ich vermute mal, dass wir in 90% aller Gebete Gott um eine Abkürzung beten, um nicht den langen Weg zu uns selbst oder hin zum Anderen gehen zu müssen. Das fängt ja bei der Bitte um Vergebung an: Gott vergib mir meine Schuld! – und schon muss ich meinen Nächsten nicht mehr um Vergebung bitten. Oder: Mach, dass ich glücklich bin! – und dann muss niemand mehr in meinen dunklen Stunden für mich da sein. Oder was wäre, wenn Gott wirklich zu sehen wäre? – würden wir dann nicht alle nur noch Gott anschauen wollen und den Blick für den Nächsten verlieren?

          Wenn Jesus also betet, dass wir Menschen eins sein sollen so wie er und der Vater eins sind, dann ist das wohl die eigentliche Gebeterhörung, und dann begegnen wir Gott, indem wir einander begegnen und vier Augen auf einmal sehen, was zwei Augen nicht sehen können.

          Man könnte natürlich fragen, ob Gott dann nicht an Relevanz verliert, aber das Gegenteil ist der Fall, da sich jeder allein und alle zusammen ihm zu verdanken haben. Jesus ist der Weinstock, an dem alles hängt, und wir sind die Reben, so herum ist es richtig, aber ich habe das Gefühl, dass wir die Dinge allzu leicht vertauschen und die Welt zum Weinstock wird, an dem wir hängen und Jesus zur Mitrebe, von der wir uns Beistand erwarten.

        3. Das Thema ist spannend, daher kam mir gerade schon wieder eine Gedanke. Ich schreibe ihn in dem Bewusstsein, dass alles, was ich sage, immer nur eine Ecke eines Tausendecks ist.

          Ich glaube Nietzsche hat mal zwischen der kleinen und der großen Gesundheit unterschieden. Man kann also Rheuma haben, dazu Kopfschmerzen, Grippe, es kann einem unglücklicherweise noch das Bein abfallen und dennoch könnte man immer noch von sich sagen: Ich bin gesund!

          Genauso könnte man zwischen dem kleinen und dem großen Glauben unterscheiden, wobei der große für mich das verinnerlichte Berührt- und Bewegtsein dessen betrifft, was Gott ist und tut. Der kleine Glaube betrifft dagegen Fragen wie, ob es Gott überhaupt gibt, wie er in meinem Leben handelt, ob er einen Plan hat, wie er sich mit den Wissenschaften vereinbaren lässt usw.

          Wenn ich nun immer nur über den kleinen Glauben nachdenken würde, dann würde ich, wie Jesus so schön sagt, schnell zum Kleingläubigen, weil ich, wie wiederum Erich Fromm so schön sagt, im Haben und nicht im Sein glauben würde. Und deswegen ist es für mich wichtig, immer mal wieder meinen großen Glauben zu spüren, und das gelingt mir meistens dann, wenn ich mich mit der vergebenden Liebe Gottes beschäftige, die ins Menschsein, in den Tod und die Auferstehung hineinfließt.

          Ich denke, das wäre für mich dann auch die Perle, aufgrund derer ich mich im Zweifel trotzdem für den Glauben entscheiden würde. Jays Hang zur Meditation kann ich daher sehr gut nachvollziehen. Bäume umarme ich aber nicht. 🙂

          1. Toller Gedanke, Alex. Das beschreibt tatsächlich sehr gut, worum es mir auch gegangen ist.

            LG,
            Der Jay

            PS

            Bäume umarme ich aber nicht.

            Dann fang doch mit nem Dornbusch an. 😉

        4. Hi Katja,

          ich hatte am Wochende zwei Panikattacken. Ich habe ja mittlerweile einen spielerischen Zugang zu Gott, manchmal glaub ich dran, manchmal nicht. Doch da brauchte ich ihn. Rein intellektuell spricht gegen Gott das Leid und dass er sich nie offenbart hat (alle Schriften Quatsch außer Mutti). Allmächtig ist er definitiv nicht. Für Gott spricht die Existenz von MAterie, Bewusstsein und Dingen wie Mutterliebe. Wie zu einem Gott sprechen, der selber nicht spricht (weil er es nicht kann?). Doch am Sonntag brauchte ich ihn. Dachte an die Gründe für ihn und dass er alle Menschenkinder hält, wenn es ihn gibt. Dachte, Liebe gibt es (neben all dem Dreck) – sie ist überall. Vielleicht ist Gott eine Energie im Universum, die ich dann Liebe nannte. HAbe mich da reinfallen lassen und in die Liebe meiner Schwester und NEffen und Nichten, denen ich eine Geschichte vorlas und denen das so sagte. Das tat gut. Ich stelle mir meine Zwangsgedanken während der Panikattacken immer als eitrig pochende Blutströme vor, die aus meinem GEhirn in einen Beutel pulsieren, den Gott in der Hand hält und PErlen draus macht.

          Ob Du da was mit anfangen kannst, weiß ich nicht. Will Dich auch nicht auf Biegen und Brechen weg kriegen vom christlichen Glauben. Wünsche Dir, dass Du Deinen eigenen heilsamen Weg findest. Mir hat es gut getan, die großen Nüsse nicht mehr knacken zu wollen, einen Bogen um alles HEilige und PAthetische zu machen und mich auf das Gute (vor allem Freunde und Kunst) zu konzentrieren. Gleichzeitig trotzig Gutes zu tun (wer nicht kämpft hat schon verloren).

          Auch sehr pragmatisch, aber mehr weiß ich halt nicht, wir schauen durch einen dunklen Spiegel in ein verschwommenes Bild und das wird hier immer so bleiben.

          Alles Liebe, Andi

    2. Hi Katja,

      habe noch über die Sache nachgedacht und was nachtragen. Passend dazu höre ich Deinen Nick Mulvey aus dem Sommer. Vielleicht spricht Dich ja ein Gedanke an.

      Gleich mal ein hoher Einstieg, der etwas platt daherkommen kann: Ich glaube, was Dir guttun würde, sind Erfolgserlebnisse und Abgrenzung. Erfolgserlebnisse klingt erst mal nach koksenden Krawattenheinis (denen manchmal alles egal ist und die locker-leicht durchs Leben fluffen, wie Du schreibst). Es ist Teil eines wertvollen und würdigen Menschseins, Mitleid zu empfinden mit den Kreaturen und der Schöpfung. Weltschmerz. Wenn ich zur Tablettenumstellung in der Klinik bin, habe ich immer ein schlechtes Gewissen, weil ich denke, mit dem Geld könnte man Flüchtlinge retten. Doch solche Gedanken können auch pathologisches Ausmaß annehmen. Ich mache mich echt Sorgen um Dich, dass das ne klinische Depression wird.

      Ich habe bei all der Scheiße Frieden mit dem Leben gemacht. Dem Schicksal fällt es mir leichter dankbar zu sein statt Gott, der gleichzeitig andere leiden läst. Habe mal ein Interview mit einem Moslem im TV gesehen, wo erberichtete, er danke Gott, dass sein Stadtteil im Gegenteil zum benachbarten nicht bombardiert wurde. Da erkannte ich, wie bizaar mein Glaube war. Ich freue mich mit meinem besten Freund über seinen Traumjob und seine Traumfrau und gönne meiner Schwester ihre drei Kinder und ihr Begabtenstipendium. Wäre doch trist, wenn ich die Runterzeihe. Ich weiß gar nicht, worauf ich hinauswill, vielleicht sind mir die Buddhisten ein Vorbild: Jeder langt mal ins Klo, jedem gehts mal gut. Die Transzendenz zwischen uns Menschen. Ich glaube ich darf Dir im Sinne der LEser hier zusprechen, dass Dein LEid einen wert hat. Du sprichst zu und für uns. Doch irgendwann darf auch mal wieder ein Pflänzchen wachsen. Freud hat sich das mit der freien, assoziativen Rede des PAtienten auf der Couch immer so romantisch vorgestellt, ich empfinde dieses jedoch oft als dumpf und stumpf, was gar nicht was ich sagen soll. Dann leiste ich Trauerarbeit, indem ich mich zwanzig Minuten ins Bett lege und meine strenge Erzeihung, mein durch KRankheit verpfuschtes LEben und verlorene Träume betrauere. Doch dies ist heilsam, danach geht es wieder rotbäckig ans Tagwerk.

      Jetzt noch ein paar schräge Gedanken, weiß nicht ob da was für Dich dabei ist, bin ja mehr der BWLer und Ingenieur:

      LEben ist glaube ich nicht nur immer im Element schwimmen, sondern auch mal Konstrukt und Kunstwort, bei dem ich gerne die MAcht heilsamer Worte einsetze. Aber man darf auch mal Nichtkämpfen und Kopf unter Wasser machen. Glaube, das ist ok. In Sachen Tatkraft und Spannkraft sind mir Edison und Ford ein Vorbild. Ich ahme ihnen dann, wenn ich mich zu was aufraffe im Geiste nach und stelle mir vor, wie sie vorher die großen Transzendentalisten mit ihren natur-mystischen Motiven und nur halbspirituellen Anklängen gelesen haben und diese sie zu ihren Taten bewegen (Lies mal Emerson, Whitman und Thoreau). Doch selbst diese HElden haben ihre Grenzen. Auch ein OBama, der erleben durfte, wie er fast allen die KRankenkasse brachte, war in einem ausweglosen Krieg und Wahnsinnsdilemma gefangen. Unser Tun ist Stückwerk, Konstrukte haben Grenzen, Ausnahmen und gute Gegenargumente.

      Dazu gehört auch das Aufgeben von Träumen. Auch überhöhter Gottesbilder. Ich habe jetzt zwei private Träume beerdigt, nachdem mir zwei LEute sehr unempathisch zugeredet haben. Doch dann kam so ein Pflänzchen und ich erlebte es als befreiend. Illusionen rauben KRaft.

      Zuletzt:Wird alles gut?
      Ich weiß es nicht. Es wird Dir nicht viel helfen, dass es eine große Errungenschaft des MEnschen ist, dass Gott gut ist. Schaut man sich um, könnte es auch anders sein. Mir hilft Jay’s Ansatz enorm: Was wäre denn schöner? Ja verdammt, ich wil glauben. Und es sprechen ja auch Argumente dafür. Und wenn jemand wie Jay einen schönen Glauben hat und die Welt und das Christentum gleichzeitig ins Heilsame und Gesunde zieht, das finde ich das wunderschön. ICh habe jedoch gelernt, meine Hoffnung auf gesunder Flamme zu halten. Sonst brennt man aus. In einem meiner Bücher, in dem ich dieMenschheitsgeschichte als sich entfaltende und dann wieder in sich zusammenklppende Spirale beschreibe, ist es schließlich eine bizaare Gruppe, die durch ihre trotzigen guten Werke Gott das letzte Energiemomentum verleiht, damit alles gut wird (aber da wollte ich glaube ich nur wieder mal was Frevelhaftes schreiben).

      1. Hallo Andi,
        danke für deine Gedanken.
        Bei meinen Panikattacken hat mir Gott noch nie geholfen. Das mit dem Blut und Eiter und Perlen ist jetzt auch nicht so Meins 😉 Ich probiere im Moment die Strategie: „Panikattacken kommen und gehen wie Wellen. Warte, bis die Panikwelle vorüber ist. Atmen nicht vergessen.“
        Und das Ganze WIRD auch keine kliniksche Depression, sondern das IST es seit vielen Jahren und mit vielen Therapiestunden. Mein Fazit bisher ist, dass ich wahrscheinlich nie als geheilt gelten werde, sondern dass das eine Art Persönlichkeitsmerkmal ist, was mich schon immer begleitet und mit dem ich leben lernen muss. Oder meine Erziehung und fromme Prägung haben mir die Ängste und Depressionen so eingeimpft, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis sie wieder verschwinden. Manchmal mache ich echt Fortschritte und dann schmeißt mir das Schicksal die nächste Scheibe in meinem Lebens-Raum ein und ich fange wieder an, die Scherben zusammenzukehren. Das geht jetzt schon 17 Jahre so und es ist echt zugig geworden in meinem Raum, denn die Scheiben lassen sich nie ersetzen. Die Krankheiten bleiben, die Verluste sind unwiederbringlich, für schwierige Lebensumstände gibt es (bis dato) keine Alternative. Da ist kein Gott, der das Blatt wendet. Therapie ist immer nur Scherben ordnen – vielleicht mal ein hübsches Mosaik draus legen, aber das ersetzt die fehlenden Scheiben nicht.
        Du hast Recht, ich brauche Erfolgserlebnisse. Ich habe nur noch keine Formel gefunden, die Erfolgserlebnisse heraufbeschwört… Mein Eindruck ist: Das Schlechte kotzt mir von ganz alleine ungefragt rein und bleibt zäh kleben. Das Schöne ist nur punktuell, ich muss es mir meistens mühsam suchen oder dafür Achtsamkeitstrainings machen und so. Und es ist schneller weg, als ich gucken kann. Das kostet endsviel Kraft.
        Deine Strategie, dich auf das Gute zu konzentrieren (Freunde und Kunst) und trotzig Gutes zu tun, ist meiner Trias „freundliche Menschen & Musik & Lieben“ ja ziemlich ähnlich.
        Katja

        1. Hallo Katja
          Du sprichst mir da ziemlich aus dem Herzen.
          „Mein Fazit bisher ist, dass ich wahrscheinlich nie als geheilt gelten werde, sondern dass das eine Art Persönlichkeitsmerkmal ist, was mich schon immer begleitet und mit dem ich leben lernen muss. Oder meine Erziehung und fromme Prägung haben mir die Ängste und Depressionen so eingeimpft, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis sie wieder verschwinden. Manchmal mache ich echt Fortschritte und dann schmeißt mir das Schicksal die nächste Scheibe in meinem Lebens-Raum ein und ich fange wieder an, die Scherben zusammenzukehren.“
          Das könnte von mir sein. Wie lange es dauert, eine christliche Prägung abzulegen weiß ich nicht. 27 Hirnwäsche ist halt lange bei mir und nicht in paar Jahren rückgängig zu machen. Obwohl ich es bei mir nicht als Depression sondern eher als ständige Angst bezeichnen würde, was aber ähnlich grausam ist.
          Ja genau, Erfolgserlebnisse……. die sind nur bei manchen Menschen wohl sehr häufig und bei zweifelnden/unsicheren/ängstlichen Persönlichkeiten eher selten. Was bleibt dann? Leben genießen, wo es geht und immer dann, wenn es sich irgendwie für möglich erachtet. meine Therapeutin stellte mir mal folgende Frage „Wie wäre es, wenn Sie gewisse Momente genießen könnten? Wie würde sich das anfühlen?“ Ich dachte nur „Ich hab Angst und bekomm Panik, wie soll ich da genießen?!“ Aber ja, wie wäre es denn (rein hypothetisch) wenn ich und du (Katja) und all die anderen da draußen, kleine Momente genießen könnten und diese zu Erfolgserlebnissen werden? Wäre das nicht großartig! 🙂 🙂

          1. Hi Hanna,

            meine Antwort an Dich ist doch etwas länger ausgefallen. Habs Jay geschickt zum Weiterleiten an Dich und wahrscheinlich ist es sinnvoll, dass Jay das hier mal kurz postet, damit es nicht in den Untiefen Deines Spam-Ordners untergeht. Kannst ihn ja mal dran erinnern, falls er es vergisst.

            Katja und Hanna, ein kleineer Trost ist ja der Frühling wenn alles duftet und blüht. Genießt ihn…

            Euer Andi

          2. Hallo Hanna,
            ach, das verstehe ich so gut!
            Kleine Freuden, die zu Erfolgserlebnissen werden, wären wirklich großartig.
            Ich kenne das auch, dass ich da sitze und so ein kleiner penetranter Yogi (alternativ auch eine von meinen frommen Gott-will-nur-Gutes-für-uns-Freundinnen) auf meiner Schulter mir ins Ohr flüstert „jetzt entspann dich doch mal“ oder „jetzt freu dich doch mal an diesem Moment“, dem ich dann entgegenbrülle „WIE denn, verdammt noch mal??! Ich hab doch schon alle Entspannungs- und Achtsamkeitsmethoden und Dankbarkeitsmantras durch. Aber dem dunklen Schleier auf mir ist das alles scheißegal, er geht einfach nicht weg, mein Körper schmerzt dauernd und in mir und um mich ist alles unruhig und durcheinander!“
            Wie oft wünsche ich mir, ich könnte anders sehen, hören, fühlen…

  6. Ich sag immer, dass ich nächtlicher Atheist bin. Wenn ich also nachts, wie so häufig aufwache und mich im Halbkoma darüber aufrege, dass ich nicht schlafen kann und Gott mir so fern von allen menschlichen Sorgen vorkommt, dann kommen die Gedanken, ob es diesen Gott überhaupt gibt. Wenn es dann Tag wird, sind die Gedanken meistens verflogen und die besten Gebetszeiten habe ich, wenn ich halbbetrunken und gut gelaunt von einer Feier nach Hause komme.
    Je besser ich also funktioniere und je mehr ich ich selber bin, desto stärker glaube ich an Gott und je schlechter es mir geht und je getriebener ich mir vorkomme, desto weniger glaube ich an Gott – weil ich, wenn ich nur ein Schatten meiner selbst bin, Gott ja auch nur als Schatten wahrnehme.
    Für mich ziehe ich daraus 2 Schlüsse: Erstens neige ich eher dazu, der besseren statt der schlechteren Version von mir Glauben zu schenken und zweitens muss ich am Unglauben nicht verzweifeln, weil ich ja genau weiß, dass nach der Nacht dann wieder der Tag anbricht.

  7. Hi Jay,

    hab mir grad Deine Predigt aus der Andreasgemeinde über den rationalen Zugang angehört. Hör mal in ein paar Predigten rein (vor allem Mystik und Enthusiamsus). Dachte, da diese Folge hier eh ein Sammler war, kann ich hier mal Feedback geben.

    In der christlichen ORthodoxie hat sich die LEhre durchgesetzt, dass auf Grund eines ominösen Sündenfalls und durch die uns umzirzenden Dämonen (Paulus‘ Mächte, gegen die wir angeblich kämpfen) wir Gott nicht mit unserem Verstand erkennen können. Ich glaube das nicht. Ich glaube wir können uns Gott im Verstand annähern, auch wenn wir letzte Dinge wie behütete Kinder nicht sagen können. Und wenn, dann eher Nützliches und Liebendes als Wahres.

    Doch auch dieser rationale Weg kann furchtbar schiefgehen, wie es die Geschichte bewiesen hat.

    Ich bin kein Christ, finde die Dreieinigkeit des MEnschen aus Geist, Seele und LEib aber sehr sinnvoll. Eine kleinere solche Dreieinigkeit sehe ich in Verstand – Herz – Gewissen (man könnte noch den Willen hinzunehmen und alles in die Seele packen :-). Wenn diese drei Pole sich wechselseitig führen und auch mal stoppen, kann das Ganze gelingen…

    Ich genieße es jedenfalls sehr, unbefangen über Gott nachzudenken, gerade jetzt, wo ich wieder täglich durch die NAtur zu meinem geliebten See laufe und alles so erdig und blütend duftend.

    Danke für die PRedigt und bis zur nächsten Mail, Andi

  8. Hallo Hanna,
    …mhh, vielleicht schon etwas spät dass ich schreibe, aber ich höre die Folge erst jetzt und probiere es jetzt trotzdem mal noch…

    ich kann sehr gut nachvollziehen, was du geschrieben hast, mir geht es sehr ähnlich. Ich kann dir die Hossatalk Folgen 34/35 Das Kreuz empfehlen. Ich habe sie vor ein paar Wochen gehört und für mich war das wie ein Befreiungsschlag! Ich habe mir selbst schon solche Gedanken darüber gemacht und dann das zu hören war für mich wirklich wichtig.
    Vielleicht hilft dir das auch weiter.

    Vieles von dem was andere schreiben berührt mich, sehr….. dass es anderen auch so geht wie mir.
    Das Gottesbild ist so verdorben bzw. so fest mit bestimmten Vorstellungen und Lehren verwoben dass ich auf der Suche nach etwas gänzlich neuem bin. Was auch immer es ist, sollte etwas „Göttliches“ existieren, dann existiert es ja auch, ohne dass ich daran glaube. Und dass da etwas ist, das spüre ich tief im Inneren. Aber wie und wo und was bzw. mit welchen Worten ich das ausdrücken kann, da bin ich noch auf der Suche ( sehr zögerlich, denn ich will mich ja nicht wieder dem „Alten“ öffnen (Trigger, PTSD – super spannend, hab noch nie davon im religiösen Bezug gehört), bzw. dieser ganzen Moralsch*.***

    Diese Woche habe ich das Lied von SEOM „Halleluja“ entdeckt. Das hat mich sehr bewegt, denn das ist eine schöne Beschreibung dessen, was ich im Moment als „das Göttliche“ bezeichnen würde.
    Ist/Wäre das nicht wunderbar – frei von Dogmatik, Religion, Moral etc. …… wie kommt das nur, dass ich nun an Liebe und Jesus denken muss??! 😉

    Alles Gute dir!

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